Vor 25 Jahren, am 3. Juni 1998, ereignete sich in Deutschland das ICE-Unglück von Eschede. Damals starben 101 Menschen. Viele von Euch werden sich daran erinnern, vor allem aus der offiziellen Berichterstattung, die auch heute die Gelegenheit nicht auslässt, an dieses grösste Bahnunglück der deutschen Geschichte zu erinnern. Ich möchte heute mal meine eigene Sichtweise der Ereignisse öffentlich machen.
Denn ich war dabei.
Es war der Morgen des 3.6.1998. Zusammen mit ein paar anderen Student*innen im «Praktischen Jahr», die wir zu diesem Zeitpunkt in der Unfallchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) unseren Dienst taten, war ich zu einem «Trauma Masterclass Symposium» im Gebäude «Theorie 2» der MHH abkommandiert. Wir sollten seinerzeit helfen, dem Symposium, welches als «Krönung des Lebenswerks» des damaligen Chefarztes der Abteilung Traumatologie der MHH, Prof. Dr. Tscherne (welcher kurz vor der Pensionierung stand), postuliert worden war, zu einem grossen Erfolg zu verhelfen. Das Symposium lief bereits seit einem Tag.
Kurz nach halb 12 Uhr breitete sich im Hörsaal R (ich meine, es war Hörsaal R – könnte aber auch Hörsaal S gewesen sein (man möge mir bitte diese kognitive Unschärfe nach einem Vierteljahrhundert verzeihen)) eine gewisse Unruhe aus. Manche Handys klingelten. Einzelne Ärzt*innen verliessen plötzlich schnell den Hörsaal.
Etwa 10 Minuten später trat dann mein Doktorvater Professor Krettek vor die versammelte Ärzt*innenschaft und erklärte die Veranstaltung für unterbrochen. Es habe ein Zugunglück gegeben. Alle Ober- und Assistenzärzt*innen sowie die PJ-Student*innen sollten bitte sofort in die Notaufnahme der MHH kommen.
Wir machten uns also sofort auf den Weg in die Notaufnahme der MHH. Dort wurden wir bereits von Professor Tscherne empfangen. Er erklärte uns, dass es ein Eisenbahnunglück in der Nähe von Celle gegeben habe, weswegen eine Reihe von Chirurg*innen bereits auf dem Weg in ihre lokalen Krankenhäuser seien. Die MHH müsse nun alle diejenigen Verletzten aufnehmen, für die es in den anderen Kliniken keinen Platz gebe.
Aber er wolle sich «nicht sein Symposium kaputt machen lassen», weswegen die MHH auch nur das «Mindestmass» an Verletzten aufnehmen würde, zu dem die Hochschule gesetzlich verpflichtet sei! [sic!]
Das Symposium würde in jedem Fall weitergehen! [sic!]
Die versammelten Kaderärzt*innen wurden auf Helikopter und RTWs/NEFs aufgeteilt und flogen/fuhren raus nach Eschede.
Kurze Zeit später trafen die ersten Verletzten ein. Ich möchte Euch allen gerne ersparen, was sich danach in der Notaufnahme der MHH abgespielt hat; daher nur soviel: ich habe (und das taten so manche PJler*innen und Assistent*innen ebenfalls) mich damals zum ersten und einzigen Mal in einer Notaufnahme heftig übergeben. Wir bekamen damals Menschen herein, die dermassen mechanisch beschädigt worden waren, dass wir uns fragten, ob wir uns gerade in einem Kriegsgebiet aufhielten.
Nach einer kurzen Triage wurden wir Student*innen dann in verschiedene OPs abkommandiert, um zu versuchen, wenigstens ein paar Opfer des Unfalls zu retten. Ich wurde einer Operation (als 3. Assistenz) zugeteilt, bei der gleich zwei OP-Teams versuchten, eine im 6.-7. Monat schwangere Frau und ihr Ungeborenes zu retten.
Was sich am Ende als aussichtslos erwies: nach 3 Stunden starb uns die Frau unter den Händen weg, gut eine Stunde später ihr Kind.
Am Ende des Tages wurden wir alle nochmal in der Notaufnahme zusammengerufen. Den Ober- und Assistenzärzt*innen wurde eine Nachbearbeitung durch die Abteilung Psychiatrie der MHH angeboten. Für die beteiligte Student*innenschaft hiess es nur: «Das ist nicht unsere Aufgabe, sprechen Sie mit dem Studierendendekanat.»
Als ich am Abend nach Hause kam, sah ich im Fernsehen Professor Tscherne und meinen Doktorvater Prof. Krettek (im Hintergrund), wie beide lobten, wie die Teilnehmer*innen des Symposiums bei der Versorgung der Verletzten mitgeholfen hätten.
Wie verlogen war das nun? Diejenigen Chirurg*innen, die das Symposium verlassen hatten, waren in ihre eigenen Krankenhäuser (e.g. Braunschweig, Peine, Lehrte, Celle, Burgwedel, Hameln, Hildesheim, H-Oststadt, H-Siloah, H-Nordstadt)) zurückgekehrt und hatten dort wesentlich mehr Unfallopfer gerettet, als wir in der MHH. Keine*r von denen war in der MHH beteiligt gewesen!
Am nächsten Tag jedoch ging es beim Symposium weiter wie gehabt. Wir alle wurden angewiesen, nicht mit den Angehörigen oder TV-Teams vor Ort zu sprechen, wurden sogar durch plötztlich anwesende Sicherheitskräfte ins Hörsaalgebäude begleitet.
Stattdessen wurden dann im Verlauf des 4.6.1998 die sowieso für das Symposium geplanten OP-Demonstrationen an Opfern des ICE-Unglücks durchgeführt. Und ich erinnere mich leider noch sehr «gut» daran, wie ein Chirurg das Tablett mit seinen Instrumenten auf dem total plattgedrückten Gesicht eines Unfallopfers abgestellt hat – «der hat ja wohl nichts mehr dagegen».
Die ganze Stimmung auf dem Symposium war bezüglich der Unfallopfer dermassen respektlos, dass ich fast noch einmal gekotzt hätte.
In der Folge gab es für die Assistenz- und Oberärzt*innen der MHH psychologische Begleitung. Für uns Student*innen leider nicht. Wir haben uns diese privat organisiert, auf eigene Kosten.
Heuer wird noch einmal der Opfer des ICE-Unglücks gedacht. Das ist auch gut so. Aber leider bleiben ein paar andere Betroffene immer noch aussen vor, vor allem jene, welche damals im Hintergrund aktiv waren. An einige von diesen möchte ich hiermit erinnern.
Wir leiden immer noch. Unter Ignoranz und einer völlig überkommenen Form von patriarchialisch-hierarchischem Denken in der Medizin allgemein, in der Chirurgie speziell. Es hat sich diesbezüglich leider in 25 Jahren immer noch nicht viel geändert.
Vielleicht können wir alle diesen Jahrestag nutzen, daran etwas zu ändern.
Flo
P.S.:
Die damaligen Ereignisse waren einer unter mehreren Gründen, warum ich seinerzeit meine fast fertige Doktorarbeit in der Abteilung Traumatologie der MHH geschmissen habe.
Die anderen Gründe habe ich ja bereits an anderer Stelle bekanntgemacht.
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