Das Web kann sich an vieles erinnern, was wir schon vergessen glaubten. Suchmaschinen finden mitunter mehr, als uns Recht ist. Deshalb sollten wir unsere Informationen mit Verfallsdaten versehen können, fordert der Politologe und Medienrechtler Viktor Mayer-Schönberger.
An dieser Stelle wird es in den nächsten drei Tagen nicht um Lebensmittel gehen, sondern um den Blogger-Kongress re:publica, der bis Freitag in Berlin stattfindet. Für einen guten Start sorgte heute Vormittag der Politologe Viktor Mayer-Schönberger von der Harvard University mit seiner Keynote “Nützliches Vergessen – Informationsökologie im digitalen Zeitalter”.
Um uns darüber klar zu werden, wie einschneidend die Möglichkeiten der digitalen Datenspeicherung unsere Erinnerung verändern, werfen wir einen Blick weit zurück: Über Jahrtausende bestimmte unser natürliches Gedächtnis das Erinnerungsvermögen der Menschheit. “Erinnern ist schwer”, sagt Viktor Mayer-Schönberger, Vergessen sei dagegen einfach. “Vergessen war die Norm, Erinnern die Ausnahme”. Zwar wurde und wird Wichtiges mündlich und seit ein paar tausend Jahren auch schriftlich überliefert, “aber die Erinnerung Anderer kann trügerisch sein.”
Sich an allzu viel erinnern zu können, sei für die menschliche Entwicklung nicht nötig gewesen, so Mayer-Schönberger, ganz im Gegenteil: “Die biologische Fähigkeit des Vergessens” sei eine Voraussetzung, rational entscheiden zu können. “Wir mussten niemals lernen, zu vergessen” – bis zum Anbeginn des digitalen Zeitalters.
In rund einem Jahrzehnt hat das Internet seinen Weg in unser aller Alltag gefunden. Wir speichern unsere Urlaubsbilder auf Homepages und sozialen Netzwerken, mailen, bloggen, kaufen und bezahlen online. Und mit jeder Aktivität wächst unser persönlicher Datenberg ein bißchen weiter an. In den USA haben bereits zwei von drei Jugendlichen in irgendeiner Form selbst Informationen über sich ins Netz gestellt – in der Regel ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen. “Was einmal ins Netz gestellt ist, wird nicht mehr vergessen”, meint Mayer-Schönberger, Google wisse daher schon mehr über uns, als wir uns selbst erinnern können. “Es ist das Vergessen, das immer mehr in Vergessenheit gerät.”
Was kann der Einzelne tun, um einmal “freigesetzte” Daten wieder einzufangen oder besser noch zu löschen? Zur Zeit gebe es da kaum praktikable Wege, so die nüchterne Einschätzung des Politologen. Zwar gebe es ein Betroffenenrecht, doch sei dies “totes Recht”, da in der Praxis nicht anwend- und durchsetzbar. Auch das Konzept der Zweckbindung, nach dem Informationen nur eingeschränkt verarbeitet werden dürfen, hält Mayer-Schönberger für nicht hilfreich. Die staatliche Vorratsdatenspeicherung stehe diesem Konzept des Datenschutzes entgegen. “Und wenn der Staat Datenschutz nicht mehr will, werden die Menschen über Nacht verwundbar.”
Vorerst sei Enthaltsamkeit ein Weg, seine Informationen für sich zu behalten, so Mayer-Schönberger. Doch weil dies auf lange Sicht wenig erstrebenswert und nützlich sei, müsse ein Weg gefunden werden, Macht über die eigenen persönlichsten Daten zu behalten. Der Forscher plädiert deshalb für die “Wiedereinführung des Vergessens”. Wer Daten online stelle, solle diese mit einem Verfallsdatum ausstatten können. Information müsse – zumindest wenn ihr Besitzer dies wünsche – im Laufe der Zeit immer weniger wert sei.
Wie dieser Ansatz technisch gelöst werden könnte, ist vorerst unklar. Aber der Ansatz soll uns, so die Intention Mayer-Schönbergers, immer wieder daran erinnern, dass Information eine zeitliche Komponente hat.
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Weiß Google tatsächlich mehr über mich als ich selbst? Die Suche nach meinen ersten, mit den ältesten Disketten längst verlorenen Online-Texten etwa lässt mich daran zweifeln, ob im Netz wirklich alles für ewig zu finden ist. Im Gegenteil: Meinem Gefühl nach verschwindet vieles viel zu schnell wieder, bevor ich mir eine Kopie sichern kann. Aber die Unberechenbarkeit, mit der im Zweifelsfall gerade jenes erhalten bleiben kann, was ich lieber gelöscht sehen würde, macht das digitale Erinnern zu einem potenziellen Risiko. Bis auf weiteres bleibt wohl die gezielte Enthaltsamkeit an entscheidenden Punkten die beste Strategie…
Lesetipps zum Thema:
“Daten brauchen ein Verfallsdatum” – Interview mit Mayer-Schönberger bei Golem.de
Vergiss es! – Artikel bei “Der Westen”
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