Die Oscars sind vergeben, wie so häufig hat der schlechtere Film gewonnen, die Schnulze Slumdog vor dem grandiosen Benjamin Button … aber was soll’s.

Nicht immer müssen Kinofilme reine Unterhaltung sein. Bei manchen kann man sogar was lernen.

Zumindest haben sich das die Professoren Stephan Doering und Heidi Möller gedacht und gemeinsam mit 28 Fachkollegen (insgesamt sind 18 der Autoren Profs.) ein Buch über die psychischen Erkrankungen von Filmfiguren geschrieben.

Im Prinzip eine gute Idee, schließlich fragen sich viele Leute, ob man in den Räumen der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie tatsächlich auf Leute wie Raymond Babbit (Rain Man) oder Massenmörder wie Hannibal Lecter (Das Schweigen der Lämmer) trifft.

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Ausgehend von diesem Ansatz hätte man spielerisch allen interessierten Nicht-Psychologen und Nicht-Psychiatern einen lebendigen Einblick in die schwierige Diagnostik der psychischen Erkrankungen und Störungen geben können.

Wenn … ja, wenn es eine Schluss-redaktion gegeben hätte und wenn tatsächlich eine intensive Diskussion der betreffenden Filmfigur mit dem ICD10 (Handbuch zur Bestimmung psychischer Erkrankungen) erfolgt wäre.

Doch klar hergeleitete Einordnungen wie „dissoziale Persönlichkeits-störung” (für Hanibal Lecter) stellen in dem Sammelwerk die Ausnahme dar.
Vergebens sucht man in den meisten Artikeln nach Einschränkungen im Krankheitsbild bei der Filmdarstellung wie „aber die größere Belastung der Patienten und Angehörigen entsteht aus Verkennungen und der daraus resultierenden Angst, Agitation und Aggressivität, die sich bei einem Teil der Patienten entwickelt” (über die Alzheimererkrankung, dargestellt in „Iris”).

Rundum gelungen sind eigentlich nur zwei Besprechungen, auf der einen Seite Kornelia Steinhardts Analyse von Raymond Babbit (Rain Man), da Steinhard sich nicht zu schade ist, eine Frage wie „was ist Autismus?” zu stellen, sowie Friedemann Pfäfflins Besprechung von Boys don’t cry (Transsexualismus).

Am allerwenigsten überzeugt bei Frankenstein und Belle de Jour jedoch die Auswahl der Filme. Hier herrscht eine absolut unverständliche Beliebigkeit.

Beispielsweise werden gleich eine ganze Reihe von Uraltfilmen besprochen, bei denen man sich unweigerlich fragt, wie der Autor auf die Idee kommen konnte, hier exemplarisch zu diagnostizieren. Schließlich existierte zu diesem Zeitpunkt nur ein sehr begrenztes systematisches Wissen – selbst an den besten medizinischen Fakultäten (Der blaue Engel 1930; Frankenstein 1931; M – Eine Stadt sucht einen Mörder 1931; Citizen Kane 1941; Die Caine war ihr Schicksal 1954).

Dann wiederum wimmelt es von französischen Filmen mit Femme fatales, die sich nicht eindeutig diagnostizieren lassen und von den Regisseurinnen auch entsprechend angelegt wurden (Ein Herz im Winter, Wahnsinnig verliebt, Schattenmund).

Viel zu selten haben sich die Autoren an Filme gewagt, die tatsächlich eine Erkrankung oder Störung thematisierten: Iris, Trainspotting, Das weiße Rauschen, Das geheime Leben der Worte, Elling, Boys don’t cry, Rain Man sind gerade mal acht von 30 Besprechungen.

Leider schwankt dabei auch die Qualität der Texte enorm. Während manche Autoren seitenlang nicht mehr als reine Inhaltsangaben schreiben, schrecken andere Autoren nicht vor ausführlicher Anwendung von freudscher Pullermann-Diagnostik. Also jener Idee, gegen die so manche Esoteriklehre hochwissenschaftlich klingt.

Das ärgert vor allem, weil im Klappentext eine Diagnose nach ICD10 oder wenigstens DSM-IV versprochen wird. Aber wenn man dann lesen muss, dass Leonardo DiCaprio als Howard Hughes (Aviator) einen anal-aggressiven Triebkonflikt darstellt und „phallisch-narzistisch” handelt, dann möchte man das Buch am liebsten gleich wieder aus der Hand legen.

Vorreiter in negativer Hinsicht ist dabei übrigens Professor Wolfgang Scheider (Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin an der Universität Rostock), der dem vollkommen blödsinnigen und in der Darstellung maßlos übertriebenen Film „Reine Nervensache” attestiert: „dass der Film bestens geeignet ist, grundlegende Fragestellungen der psychodynamischen Psychotherapie in einer lust- und gehaltvollen Weise aufzuzeigen”. Eine erstaunliche Einschätzung, wenn man bedenkt, dass der Film an anderer Stelle als verkleidete Sitcom gescholten wurde.

Schneider hingegen bewertet den Film als „Lehrstück der Prävention” (S.166). Was man dann wohl eher als Aussage über Schneiders Aufenthaltsort im Elfenbeintunnel und die  Abhängigkeiten in der Psychoanalytikerausbildung verstehen dürfte. Wenn der Chef lacht, ist es doch normal, dass alle mit lachen, oder?

Die zwei letzten Kritikpunkte am stellenweise sehr weitschweifig geschriebenen Buch betreffen die Unvollständigkeit der Diagnosen und fehlende Filmtitel.

So fehlt beispielsweise die manisch-depressive Erkrankung, obwohl sie besonders häufig bei Schauspielern auftritt und mit unzähligen Dr. Jekyll und Mr. Hyde Versionen (unter anderem Die Maske mit Jim Carrey) häufig genug verfilmt wurde.

Und dann fehlen natürlich weltbekannte Titel wie Psycho von Hitchcock, Einer flog über das Kuckucksnest, Shining, A beautiful mind …

Es bleibt bei der Einschätzung, dass die Idee zu dem Werk gelungen, die Umsetzung jedoch misslungen ist. 

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