Wo sind eigentlich die neuen Medikamente?
Seit neun Jahren liegt eine „Arbeitsversion” des menschlichen Genoms vor und die ersten Arbeiten an sogenannten „Krankheitsgenen” haben mittlerweile ein gutes Vierteljahrhundert auf dem Buckel.
Doch wer heute nachfragt, inwiefern oder ob die Versprechen zur besseren Behandlung von Krankheiten eingelöst wurden – oder ob die Forscher nicht vielmehr teuren Datenmüll fabriziert haben – gilt als Spielverderber.
Dabei haben sich die Wissenschaftler damals diese Regel selber definiert. Zu Beginn des Sequenzierungsbooms köderten sie die Gesellschaft mit der Aussage, dass es demnächst bessere Medikamente für alle gängigen Leiden geben würde! Und diese neuartigen Mittelchen sollten dann auch noch „individualisiert” zu haben sein.
Wenn wir uns jetzt aber mal die häufigsten Todesursachen anschauen:
- Chronische Herzkrankheit,
- Herzinfarkt,
- Herzinsuffizienz,
- Lungenkrebs,
- Schlaganfall,
- Lungenentzündung
Dann entdeckt man innerhalb der Liste der neuzugelassenen Medikamente keine einzige neue Arznei, die auf dem ehrgeizigen Ziel der individualisierten Medizin basiert.
Unter Millionen von Kandidaten hat einzig Trastuzumab (Herceptin) die Zulassung für die Behandlung von Brustkrebs erhalten (bei Patientinnen, die vermehrt HER2/neu Rezeptoren auf ihren Krebszellen ausbilden). Aber sonst?
Man könnte fast meinen, dass Milliarden an Steuergeldern verschleudert wurden. Dass Tausende Anträge mit nahezu identisch klingendem Wortlaut von der DFG bewilligt wurden, die allesamt Krankheiten an ihren Wurzeln packen wollten und dass dabei nichts herausgekommen ist – wenn man mal von erfolgreichen Spin-offs absieht, bei denen Doktoranden aus der täglich, stumpfen Laborarbeit einen halbwegs funktionierenden Diagnosetest gebastelt haben.
Aber Krankheitsbekämpfung? Denkste!
Im Prinzip müsste man erwarten, dass zumindest einige hochrenommierte Forscher einmal nachdenken und sich vielleicht sogar ein bisschen entschuldigen, bezüglich ihrer hochgesteckten Ziele und weltfremden Ankündigungen. Am meisten dürfte man das von Leuten erwarten, die besonders stark vom Genhype profitiert haben. In aktuellen Interviews lesen wir aber, wie trotzig sich diese Personen die Zukunft (immer noch) vorstellen:
„… ist der Weg zum personalisierten, maßgeschneiderten Medikament nicht mehr weit.”
Und es wird sogar noch schlimmer:
„Eines Tages werden wir Medikamente zur Vorbeugung haben. Die Medizin der Zukunft soll verhindern, dass wir überhaupt krank werden.” (beides Zitate von Psychiater Florian Holsboer im Spiegel 18/2009; S.137 und S. 140)
Sehr peinliche Thesen, denn wenn irgendetwas davon zutreffen würde, dann hätte alle naslang oder zumindest jede Woche ein neues Medikament zugelassen werden müssen, das eines der Millionen von Wehwehchen in dieser großen Welt des überbordenden Individualismus bekämpfen könnte.
Doch wie bereits gesagt entlarven die Bekanntmachungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) solchen Berufsoptimismus als hohle Lüge.
Tatsächlich musste Holsboer sogar persönlich zugeben, dass er trotz jahrzehntelanger Arbeit und zweifellos großer molekularbiologischer Kompetenz – nicht ein einziges neues Medikament auf den Markt gebracht hat. Aber seinen festen Glauben hat dies nicht erschüttert. Gottseidank?
Was hat es also mit den Gensequenzen und den daraus gewonnen Erkenntnissen über Erkrankungen auf sich? Der Journalist Jörg Blech wirft in seinem Spiegel Artikel 22/2009 die Frage auf, ob Gene nicht vielleicht eine ganz andere Rolle spielen und vielleicht sogar jeder Patient seine eigenen individuellen Krankheitsgene in sich trägt? Was in etwa bedeuten könnte, dass jede Krankheit aus einem persönlichen genetisch-umweltbedingten Prozess entsteht …
Wenn diese Hypothese tatsächlich zutrifft, müsste die gesamte medizinische Forschungslandschaft weltweit radikal umgekrempelt werden.
Die Spitzen der aktuellen Medizinforschung, die öffentlich immer so gerne betonen, wie evidenzbasiert ihre Forschung ist, wären bloßgestellt und müssten in die zweite Reihe treten und schamhaft bekennen, dass sie als Molekularfuzzis, nie etwas anderes betrieben haben, als Artefaktforschung mit künstlich frisierten Statistiken – ohne dass daraus auch nur irgendeine Erkenntnis bezüglich der Bekämpfung einer Krankheit herausgekommen wäre.
Uns stünde eine Revolution bevor:
Fort von der Erforschung entmenschlichter Erkrankungen, die am Tiermodell überprüft werden, hin zu Sozialmedizinern, die Krankheit als ein Phänomen der individuellen Befindlichkeit auffassen.
Das klingt so aufregend, dass man sich jetzt schon die Grabenkämpfe der Platzhirsche vorstellen kann, die mit all ihren Möglichkeiten um weitere Subventionen kämpfen.
Und morgen können wir im Medlog nachlesen, was wir für die Medizin der Zukunft halten. Kleiner Tipp: Sie ist steinalt.
Kommentare (84)