Das OPERA-Experiment hat wohl keine überlichtschnellen Neutrinos produziert, aber ein wunderbares Argument gegen verkorkste Esoteriker geliefert.
Sind Neutrinos schneller als das Licht? Wo auch immer auf Welt sich im September 2011 zwei Physiker trafen – an diesem Gesprächsthema kam man damals kaum vorbei. Erste Ergebnisse wurden veröffentlicht, die darauf hinwiesen, dass Neutrinos vom CERN schneller als das Licht ins italienische Gran Sasso gerast sein könnten – im Widerspruch zu Einsteins Relativitätstheorie. Es wäre wohl die Wissenschaftssensation des Jahrzehnts geworden, wenn das Ergebnis wirklich überzeugend bestätigt worden wäre. Nun scheinen aber Fehler bei dem Experiment entdeckt worden zu sein – das CERN will die Sache neu prüfen, vermutlich kann nun von einer Sensation keine Rede mehr sein. Das macht aber nichts.
Ich habe schon im September keinen einzigen Physiker gefunden, der wirklich daran geglaubt hat, dass Einsteins Relativitätstheorie durch die Ergebnisse des OPERA-Experimentes entwertet werden könnte. Das Experiment war äußerst kompliziert, der Effekt war winzig klein – dass es da irgendwo einen Fehler gegeben haben könnte ist eine viel naheliegendere Annahme als die Vermutung dass Neutrinos im Gegensatz zu unserem derzeitigen physikalischen Weltbild wirklich schneller als Licht reisen können. Für viele Physiker war die spannende Frage daher eher: Wo findet man den Fehler? Oft lässt sich schließlich aus Fehlern tolle neue Physik lernen.
Nun scheint aber etwas so Profanes wie ein defektes Kabel Schuld an dem so erstaunlich wirkenden Messergebnis zu sein – das ist ein bisschen schade. Keinesfalls würde ich deshalb aber sagen, dass sich CERN und die Betreiber des Experiments blamiert hätten und das Ganze eine peinliche Sache sei, wie das andere Blogger tun. Im Gegenteil: Eigentlich haben sich alle Beteiligten sehr vorbildlich verhalten. Fehler machen gehört zur Wissenschaft. Fehler machen ist keine Schande. Eine Schande ist es nur, widerlegt zu werden, und dann noch immer an seine Behauptungen zu glauben.
Mit aller gebotenen Vorsicht
Niemand am CERN oder in Gran Sasso hat damals im September die erstaunlichen Messergebnisse als Widerlegung von Einsteins Relativitätstheorie verkauft. Niemand hat behauptet, durch die Messungen sei die moderne Physik hinweggefegt worden. Die Verantwortlichen hatten den Anstand, extrem vorsichtig zu formulieren. Man beschränkte sich darauf, die Daten und Messmethoden genau zu erklären und wies deutlich darauf hin, dass man nach systematischen Fehlern suchen muss und dass man keine theoretische Erklärung der Anomalie wagen möchte. So gehört sich das auch: In der Wissenschaft muss man seine eigenen Ergebnisse immer hinterfragen und zugeben, wenn einiges noch ein bisschen wackelt.
Beweis für die Offenheit der Wissenschaft
Am schönsten ist aber, dass die Geschichte von den überlichtschnellen Neutronen Neutrinos ein ausgezeichnetes Lehrbeispiel dafür abgibt, wie offen und progressiv die Wissenschaft ist. Oft wird von Esoterikern behauptet, Wissenschaftler seien stur und festgefahren, in ihren Theorien verhaftet und nicht offen für neue Ideen, die ihren wissenschaftlichen Überzeugungen zuwiderlaufen. Seltsame Wirrköpfe schicken ihre abstrusen Fantastereien an Physikinstitute, werden dort nicht ernst genommen und behaupten dann, die Wissenschaftler seien einfach noch nicht reif für diese Ideen. Seltsame Geschäftemacher, die wirkungslose Wunderprodukte mit angeblich eingebauten Quanten-Schwingungen verkaufen, reden von einer Wissenschaft, die ihre alten Dogmen noch nicht über Bord werfen könne und ihre Augen verschließe. Nichts daran ist wahr! Die Wissenschaft ist jederzeit bereit, selbst ihre solidesten Fundamente anzukratzen.
Einsteins Grundsatz, dass massive Objekte nie schneller sein können als die Lichtgeschwindigkeit, ist ein wesentlicher Teil der Relativitätstheorie – und die Relativitätstheorie ist ein wesentlicher Teil der modernen Physik. Eine Erschütterung dieses Grundsatzes hätte also einige Umwälzungen hervorgerufen. Trotzdem wurden die Messergebnisse des OPERA-Experiments ernst genommen, ordentlich untersucht und geprüft. Und genau das ist der richtige Zugang. Selbst eine Beobachtung, die so stark im Widerspruch zur etablierten Physik stand, dass im Grunde kaum jemand an sie glaubte, bekam ihre Chance.
Nie wieder kann nun irgendein Wunderheiler, Gedankenüberträger oder Wünschelrutenzauberer unwidersprochen sagen, dass die Wissenschaft Themen einfach ignoriert, die ihr nicht in den Kram passen. Das Beispiel des OPERA-Experimentes zeigt was man tun muss, um auch mit haarsträubend abenteuerlichen Behauptungen ernst genommen zu werden: Man muss klare Daten erheben und sie sauber auf den Tisch legen. Man darf nicht vage, mystisch und schwammig sein, man muss ehrliche Ergebnisse liefern. Und: Es hilft durchaus, nicht von vornherein arrogant zu behaupten, dass man die Welt der Wissenschaft nun umgestürzt hätte. Ein bisschen vornehme Bescheidenheit und noble Zurückhaltung hilft sicher. Besonders, wenn sich am Ende herausstellt, dass man doch nicht so ganz recht hatte.
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