Wie man mit Statistik künstliche Aufregung inszeniert
„Risiko von Reaktorkatastrophen größer als bisher angenommen” – diese Überschrift konnte man letzte Woche in vielen Zeitungen lesen. Was steckt dahinter? Neue physikalische Erkenntnisse über Kernreaktionen? Eine materialwissenschaftliche Studie über das Versagen von Reaktor-Containments? Nichts dergleichen! Die ganze Aufregung kommt von einer simplen aber haarsträubenden Schlussrechnung, die in einem ansonsten seriösen und vernünftigen Fachartikel präsentiert wurde.
Um das gleich noch einmal klarzustellen: Ich bin kein Fan von Kernenergie. Die Frage, ob elektrischer Strom mit Hilfe von Kernspaltung erzeugt werden soll, kann man vernünftig diskutieren, für beide Seiten gibt es sinnvolle Argumente. Gerade deshalb ist es betrüblich, wenn diese Diskussion durch unwissenschaftliche Scheinargumente verzerrt wird.
Wie wahrscheinlich ist Verstrahlung?
Der Grund für den Mediensturm war ein Paper des Max Planck Instituts für Chemie in Mainz im Fachjournal „Atmospheric Chemistry and Physics”. Die beteiligten Wissenschaftler machen in dieser Studie etwas sehr Nützliches: Sie versuchen abzuschätzen, welche Gegenden der Welt bei Unfällen in Kernkraftwerken wie stark betroffen werden. Um herauszufinden, welche Gegenden gefährdet sind, muss man nicht nur wissen, wo Kernkraftwerke stehen, sondern sich auch Gedanken über die Ausbreitung radioaktiver Partikel machen – ein sehr kompliziertes Thema, an dem mit Recht eifrig geforscht wird.
In dem Paper liest man allerdings etwas sehr Merkwürdiges: Es wird versucht, die weltweite Wahrscheinlichkeit für Reaktorunfälle abzuschätzen – mit erstaunlicher mathematischer Waghalsigkeit: Die Gesamtzahl an Reaktorlaufzeitjahren beträgt 14500. Diese Zahl wurde durch die bisher aufgetretene Zahl von Kernschmelzen dividiert: Durch vier! Weil in Fukushima drei Reaktoren schmolzen, wurde Fukushima nämlich dreifach gezählt – und dazu kommt die Kernschmelze von Chernobyl. Das Ergebnis dieser Division ist 3625 Jahre – also sei bei jedem einzelnen Reaktor eine jährliche Kernschmelze-Wahrscheinlichkeit von 1:3625 anzunehmen, oder zumindest eine Zahl in dieser Größenordnung.
Kernkraftwerke sind keine Lotterie (hoffentlich!)
Die Vorgehensweise ist jedenfalls recht eigenartig: Ein nuklearer Unfall ist nicht einfach ein stochastisches Ereignis wie ein Lottosechser. Wir wissen genau, dass sowohl in Chernobyl als auch in Fukushima ganz besondere Umstände zur Katastrophe geführt haben: In Chernobyl menschliche Dummheit und ein bewusstes Brechen von Sicherheitsvorschriften um ein unnötig waghalsiges Experiment durchführen zu können, in Fukushima die unzureichende Auslegung von Tsunami-Schutz bei einem sehr alten Kraftwerk. Nun könnte man sagen, das sei egal, weil menschliche Dummheit eben auch rein zufällig in jedem beliebigen Kraftwerk auftreten könne – doch das ist kein sinnvolles Modell für menschliches Verhalten. Wenn ich mich an einem verlängerten Wochenende zweimal mit Freunden feiere und zu viel Alkohol erwische, kann man daraus auch nicht extrapolieren, dass ich demnächst an Leberzirrhose sterben werde. Schlechte Erfahrungen führen in der Regel zu klügerem Verhalten in der Zukunft. Dass neue Reaktoren sicherer sind als jene, die wir schon längst hätten stilllegen müssen, weiß heute jeder. Dass die Laufzeiten alter Reaktoren pikanterweise oft genau deshalb verlängert werden, weil der politische Widerstand gegen Neubauten zu hoch ist, will ich hier gar nicht diskutieren – es ist aber eine widersinnige Skurrilität, die man schon im Kopf behalten muss.
Besonders kurios ist es, die drei Kernschmelzen von Fukushima als unkorrelierte Ereignisse zu modellieren. Um hier fair zu bleiben: Die Autoren deuten an, dass sie zumindest nicht ganz sicher sind, ob man Fukushima wirklich dreifach zählen soll – es geht ja nur um eine Größenordnungsabschätzung. Trotzdem braucht man den Faktor vier für das reißerische Rechenergebnis.
Wenn sie dann Bedrohungsszenarien untersuchen, gehen sie von den radioaktiven Emissionen von Chernobyl aus: Nicht die vergleichsweise schwach radioaktiven Wolken von Fukushima werden verwendet, um Gefährdungen zu berechnen, sondern die starken Emissionen von Chernobyl (wie kann man einen Graphitreaktor als repräsentativ für die Reaktoren der Welt annehmen?). Nach der Logik, die bei der Berechnung der Kernschmelzen-Wahrscheinlichkeit verwendet wurde, hätte man den Fallout von Chernobyl und den von Fukushima addieren und dann durch vier dividieren müssen. Dabei wäre natürlich eine viel geringere Belastung herausgekommen. Dann hätten wir von der Studie aber wohl auch nicht in der Zeitung lesen können.
Was lernen wir daraus?
Manche Wahrscheinlichkeiten lassen sich nicht seriös berechnen – und dann sollte man wohl besser so ehrlich sein und das auch zugeben, anstatt sich in fragwürdigen Zahlentricks zu üben. Wer der Ansicht ist, dass Kernenergie zu risikoreich ist, kann dafür gute, saubere Argumente finden. Er schadet seinem eigenen Ziel durch unnötige Zahlenakrobatik.
Medien und Wissenschaft – alte Probleme
Vor allem aber lernen wir wieder einmal, wie das Zusammenspiel von Wissenschaft und Medien funktioniert: Wissenschaftler schreiben ein Paper, das seltsame Berechnungen aber auch solide Wissenschaft beinhaltet. Der noch recht neutral gehaltene Titel: „Global risk of radioactive fallout after major nuclear reactor accidents”. Daraus entsteht eine Pressemeldung mit dem Titel „Der nukleare GAU ist wahrscheinlicher als gedacht”, die aber immerhin noch einiges an Wissenschaft beinhaltet. Die seltsame Berechnung der Risikowahrscheinlichkeit kommt erst im dritten Absatz vor und wird korrekt erklärt, sodass sich jeder Leser ein ehrliches Bild von dieser Berechnungsmethode machen kann. In die Zeitungen kamen reißerische Artikel über die Reaktorgefahr, die 200 mal höher sei als bisher angenommen, mit Überschriften wie „Atomarer Super-GAU droht alle 10 bis 20 Jahre”.
Man kann in einem politischen Diskurs verschiedener Meinung sein. Wenn wir aber die Wahrheit nach unseren Vorstellungen verbiegen, dann verlieren wir nicht nur den Diskurs, wir töten damit die Diskussion. Das darf nicht passieren. Demokratie braucht Ehrlichkeit. Gerade auch in der Wissenschaft.
Global risk of radioactive fallout after major nuclear reactor accidents
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