Ein einfaches Konzept, ein Billardproblem zu charakterisieren – und die Probleme, die uns die Quantenphysik dabei bringt
Kugeln, die über den Tisch rollen und an harten Wänden reflektiert werden – Billard ist eigentlich eine recht einfache Sache. Das Spiel eignet sich aber ziemlich gut, um einige Zusammenhänge zwischen verschiedenen physikalischen Gebieten zu untersuchen. Vor Kurzem habe ich hier ein paar Sätze über klassische und quantenphysikalische Billardspiele geschrieben. Heute werde erklären, wie man alle möglichen Bahnen einer Billardkugel in einem einzigen Bild darstellen kann – und was das mit Quantenphysik zu tun hat.
Der einfachste Billardtisch der Welt
Wie Physiker das nun mal gerne machen, vereinfachen wir zunächst das Problem wieder so weit wie möglich: Wir verwenden nur eine einzige Billardkugel, und diese Kugel stellen wir uns winzig klein vor, am besten punktförmig. Statt eine gewöhnlichen Tisches mit sechs Löchern genügen uns zwei Löcher: Durch das eine Loch schießen wir die Kugel auf den Billardtisch, sie rollt herum und verlässt den Tisch entweder durch das andere Loch, oder durch das Loch, aus dem sie gekommen ist. Reibung vernachlässigen wir – der Kugel bleibt also nichts anderes übrig, als immer wieder an den Wänden reflektiert zu werden, bis sie irgendwann durch das eine oder das andere Loch wieder verschwindet.
Ein Beispiel für einen simplen Billardtisch. Der Rand kann irgendeine beliebige Form haben. Wie man an den eingezeichneten Linien sieht gibt es Bahnen, die zum Eingangsloch zurückführen und Bahnen, die zum Ausgangsloch hinausführen.
Alles was wir wissen wollen ist: Verlässt die Kugel den Tisch durch das Eingangsloch oder durch das Ausgangsloch? Die Antwort auf diese Frage steht natürlich schon fest, sobald die Kugel auf ihre Bahn gebracht wird. Wenn wir direkt beim Eingangsloch beobachten, an welcher Stelle die Kugel auf den Tisch rollt und in welche Richtung sie sich fortbewegt, ist die Bahn eindeutig bestimmt. Probieren wir alle möglichen Kombinationen von Anfangspunkt und Anfangswinkel aus, wissen wir alles über unser Billardproblem, was man überhaupt wissen kann.
Alle möglichen Bahnen in einem Bild
Zeichnen wir also ein Bild, auf dem wir diese beiden Anfangsgrößen durchtesten: auf der horizontalen Achse tragen wir den Sinus des Einschusswinkels auf, die vertikale Achse steht für die Anfangsposition am Eingang. Punkte am oberen Rand des Bildes stehen für Kugel-Bahnen, die am oberen Rand des Eingangsloches gestartet wurden, die unteren Punkte für Bahnen, die von unteren Rand des Loches stammen. Punkte links von der Mitte gehören zu Kugeln, die zunächst nach unten geschickt werden, je weiter wir nach rechts gehen, umso steiler ging die Bahn der Kugel am Eingangsloch nach oben. Die Farbe jedes Punktes gibt an, was letztlich mit der Kugel passiert: Bahnen, die zum Ausgangsloch führen, sind schwarz eingezeichnet, Bahnen, die den Tisch durch das Eingangsloch verlassen, sind weiß.
Das Bild ist gewissermaßen der „Fingerabdruck” des Billardtisches (man nennt es auch “Phasenraumdiagramm”). Wenn wir es genau ansehen, können wir viel über die Geometrie des Tisches lernen. Besonders markant ist der große schwarze Fleck in der Mitte: Er gehört zu Bahnen, die ungefähr mit Winkel null gestartet wurden, also ziemlich geradeaus. Bei unserer simplen Billardgeometrie (mit genau gegenüberliegenden Löchern) führen solche Bahnen natürlich geradewegs zum Ausgangsloch und werden daher schwarz markiert. Starte ich am obersten Rand des Eingangsloches muss ich ganz gerade oder leicht nach unten schießen um direkt zum Ausgang zu kommen, bei einem Start vom unteren Rand ist es umgekehrt – daher ist der schwarze Balken in der Mitte leicht schief.
Es gibt auch noch eine Reihe weiterer markanter Streifen auf diesem Bild. Man kann sich leicht überlegen, dass sie zu bestimmten einfachen Bahnen gehören, die relativ rasch aus dem Billard hinaus in das eine oder andere Loch führen – zum Beispiel einmal über die Bande oben, und dann zum Ausgangsloch hinaus. Je öfter der Weg der Kugel über eine Bande führt, je länger diese Weg also wird, umso schmäler werden die Streifen. Dieses Phänomen kennt jeder Billardspieler: Je öfter man über die Bande spielen will, je länger der Weg zum Loch ist, umso genauer muss man die Kugel spielen, damit sie tatsächlich dort landet wo sie soll.
Der “Fingerabdruck” (Phasenraumdiagramm) eines kreisförmigen Billards mit gegenüberliegenden Öffnungen
Die Größe? Völlig egal!
Jetzt kennen wir also eine übersichtliche und praktische Methode, eine Situation beim Billardspielen übersichtlich und vollständig durch ein Bild zu charakterisieren. Kennen wir das Bild, wissen wir über jede mögliche Kugel-Bahn bescheid. Interessant ist: Wir haben nirgends gesagt, wie groß der Billardtisch ist. Es ging bisher nur um die Geometrie des Tisches. Ob der Tisch hundert Meter lang ist oder zwei Millimeter, das spielt für unser Fingerabdruck-Bild keine Rolle.
Und die Quantenphysik?
Wenn wir aber immer kleinere Tische bauen und immer kleinere Kugeln verwenden, dann kommt uns irgendwann die Quantenphysik in die Quere: Unterhalb einer bestimmten Größe lässt sich nicht mehr vernachlässigen, dass jedes Teilchen auch Welleneigenschaften hat. Bauen wir einen Mikrometer-kleinen Tisch und verwenden als Kugel ein einzelnes Elektron, dann stellen wir fest, dass das Elektron nicht mehr unbedingt unseren berechneten Kugel-Bahnen folgt. Das Elektron läuft nicht auf einer festen Bahn, es breitet sich aus wie eine Welle – es läuft auf verschiedenen Bahnen gleichzeitig, es befindet sich auf verschiedenen Orten gleichzeitig. Wir können nicht einmal mehr sagen, an welchem Punkt auf unserem Bild wir ein bestimmtes Elektron einzeichnen müssen: Wir können nämlich die Richtung des Elektronen-Impulses und seinen Aufenthaltsort nicht gleichzeitig feststellen – das verbietet Heisenbergs Unschärferelation. Der Anfangszustand des Elektrons lässt sich nicht so hübsch und eindeutig definieren, wie das bei einer klassischen Kugel möglich ist.
Wir haben es also mit einer Elektronen-Welle zu tun, von der wir nur ungefähr sagen können, wo sie in unserem Bild eingezeichnet werden muss. Welche Farbe ist dieser Welle dort nun zuzuordnen? Wenn sich das Elektron wellenartig über den Tisch ausbreitet, dann wird es normalerweise auch nicht vollständig bei dem einen oder anderen Loch wieder hinausgehen. Die Elektronenwelle kann sich aufteilen, sie schwappt hierhin und gleichzeitig dorthin, eine bestimmte Portion des Elektrons wird sich durch das Eingangsloch wieder entfernen, eine andere Portion nimmt den anderen Ausgang.
Beispiel für eine Quanten-Welle auf einem Quanten-Billardtisch (mit freundlicher Genehmigung von Prof. Stefan Rotter, TU Wien)
Alles wird unscharf …
Ein schönes schwarz-weißes Bild des Billardproblems kann man also in der Quantenphysik nicht mehr zeichnen. Wir müssen uns damit abfinden, graue Zwischentöne zu bekommen. Wenn wir den Anfangszustand des Elektrons kennen, so präzise wie die Quantenphysik das erlaubt, können wir eine bestimmte Wahrscheinlichkeit ausrechnen, mit der man später ein Elektron beim Ausgang messen wird, und eine Messwahrscheinlichkeit am Eingangsloch – doch das ist alles. Genauere Aussagen können wir nicht machen. Nicht, weil wir nicht genug gemessen oder nicht präzise genug gerechnet haben – die Natur selbst lässt eine absolute Sicherheit in diesem Punkt nicht zu.
Eine Quanten-Version von den “Fingerabdruck-Bildern”: Grau in grau
Wir haben also eine Situation, auf die man oft stößt, wenn man klassische Physik und Quantenphysik vergleicht: Die klassische Physik ist eindeutig und klar berechenbar, die Quantenphysik erscheint uns ein bisschen verschwommener: Statt geradliniger Bahnen haben wir es mit wellenartiger Ausbreitung zu tun, statt klarer Vorhersagen bekommen wir Wahscheinlichkeitsangaben. Wie man die hübschen schwarz-weißen Bilder trotzdem mit der Quantenphysik versöhnen kann, werde ich in einem anderen Beitrag erklären.
Kommentare (7)