Wir haben also doch einen freien Willen, hat nun ein Quantenphysiker herausgefunden. So ein Glück!
Die Wissenschaft und der freie Wille – das ist ein Zweikampf, der seit dem Zeitalter der Aufklärung immer wieder mit feurigem Eifer inszeniert wird. Wenn die Welt völlig deterministisch abläuft, wie ein hochkompliziertes Uhrwerk, wenn sich aus dem Zustand der Welt an einem bestimmten Augenblick durch die Naturgesetze ganz zwangsläufig der Zustand im darauffolgende Augenblick ergibt – kann man dann überhaupt noch von Willensfreiheit reden?
Naturwissenschaft: Jetzt neu – mit freiem Willen!
Hans Briegel, ein Quantenphysiker aus Innsbruck, hat letzte Woche in „Nature Scientific Reports” ein Paper veröffentlicht, in dem er versucht, dem Phänomen des freien Willens näherzukommen – in den Medien hat das für einiges Aufsehen gesorgt. „Naturgesetze lassen freien Willen zu” oder „Der freie Wille hängt vom Zufall ab” titeln Zeitungen. Na wenn das kein Grund ist, sich die Sache mal näher anzusehen!
Briegel stellt darin ein Modell für die Entstehung freier Gedanken vor. So ein Modell muss jedenfalls anders funktionieren als ein simpler Taschenrechner, der auf einen bestimmten Input jedes Mal gleich reagiert. Die Nervensysteme von sehr simplen Organismen, etwa der Meeresschnecke Aplysia, kann man auch dieser Kategorie zuordnen, meint Briegel. Aplysia hat besonders große Neuronen und ihr Nervensystem ist recht einfach, daher ist sie ein beliebtes Untersuchungsobjekt in der Neurobiologie. Auch wenn wir uns nicht zu Diagnosen über das Seelenleben der Aplysia hinreißen lassen wollen – es fällt wohl niemandem schwer, sich das Nervensystem eines einfachen Tieres als rein reflexartig vorzustellen: Elektrische Signale lösen auf deterministische Weise eine Reaktion aus, beispielsweise eine Bewegung. In sich gehen, kontemplieren und sich nach innerem Kampf zu einer Entscheidung durchringen kann Aplysia wohl nicht.
Ein Netz aus Erfahrungen
Wenn wir nachdenken und entscheiden, verarbeiten wir Erinnerungen an vergangene Erkenntnisse und Erfahrungen. Unsere Gedanken wandern in Briegels Modell von einem Gedächtnisinhalt zum nächsten. Der Gedanke wird als Zufallswanderer modelliert, der sich in einem Netz von Gedächtnisinhalten bewegt und nach bestimmten Zufallswahrscheinlichkeiten von einem Punkt zu einem der benachbarten Punkte wandert. Das ist unabhängig davon, ob der Gedächtnisinhalt an einem bestimmten Punkt dieses Erinnerungs-Netzes eine tatsächliche vergangene Begebenheit widerspiegelt oder nachträglich verändert worden ist. Das denkende Subjekt kann mit Gedächtnisinhalten „spielen”, wie Briegel sagt, und dadurch in unserer Erinnerung Episoden einspeichern, die nie so geschehen sind, die aber ebenfalls Teil des Gedankennetzes sind, in dem sich unser Denken bewegt.
Das Netz und der Zufall
Zwei Punkte sind wichtig für das Entstehen von freiem Willen, schreibt Briegel: Erstens das Erinnerungs-Netz, das als Simulationsplattform dient, in der über eine Entscheidung nachgedacht werden kann, anstatt einem bloßen Reflex folgen zu müssen. Die Denkprozesse finden in einem Netz statt, dessen Gedächtnisinhalte selbst durch die Denkprozesse überformt und verändert wurden. Zweitens: Der Zufall. Es muss, so meint Briegel, einen Zufalls-Prozess geben, mit der die Gedanken von einem Erinnerungsinhalt auf einen anderen wechseln. Ein Kandidat dafür ist der Quantenzufall, als möglicherweise fundamentalste Version des Zufalls in der Physik.
Das Ende eines historischen Streits?
Ist damit nun der freie Wille mit der deterministischen Physik versöhnt? Wohl kaum. Das Netz, in dem der Denkprozess abläuft und das durch diesen Denkprozess seinerseits ständig verändert wird, erinnert sehr stark an bisher schon bestehende Konzepte von neuronalen Netzen. Mit der Frage nach der Freiheit des Willens hat das noch nicht allzu viel zu tun, denn auch die Modifikation dieses Netzes kann nach völlig deterministischen Regeln vorgeben. Briegel selbst schreibt, dass man ein solches System künstlich nachbauen könnte. Auch in einer Turing-Maschine? Wenn es klare, von Anfang an bekannte Regeln gibt, nach denen sich ein System weiterentwickelt, kann ich dann von freiem Willen sprechen? Briegel selbst äußert sich in seinem Paper darüber auch nur sehr vorsichtig – was freilich viele Medien wieder mal nicht hindert, reißerisch zu formulieren.
Mein Chef, der Zufall
Interssant ist jedenfalls, dass auch hier wieder der Zufall eine entscheidende Rolle spielt. Auf Zufalls-Argumente stößt man nämlich in der Diskussion rund um freien Willen und das Bewusstsein immer wieder. Wir können oder wollen uns nicht vorstellen, dass unser kreatives, freies Denken, auf das wir so stolz sind, klaren naturwissenschaftlichen festgelegten Regeln folgt. Also muss irgendein Zufall her, ein Deus ex Machina, der uns der bedrohlichen deterministischen Kausalkette entreißt (am besten mit Hilfe der Quantenphysik – auch wenn niemand so genau weiß, warum Quantenzufall nun wirklich so grundlegend anders sein soll als eine Lottoziehung). Selbst wenn so etwas funktioniert und wir vom Zufall gesteuert werden: Was haben wir dann gewonnen?
Wenn wir auf dieser Ebene über freien Willen nachdenken, dann kann es ihn schon definitionsgemäß nicht geben. Entweder unser Denken beruht auf naturwissenschaftlichen Gesetzen, dann bestimmen diese Gesetze was ich denke und beschließe. Oder es gibt ein Zufallselement, das den naturwissenschaftlichen Regeln nicht unterworfen ist und quasi dem Universum zusätzliche, neue Information hineinfüttert, ohne irgendeine kausale Ursache – also auch ohne dass ich oder sonstjemand darauf Einfluss nehmen könnte. Das allerdings hat mit Freiheit auch nichts zu tun. Warum soll mich das Diktat eines Zufallsereignisses freier sein lassen als das Diktat eines mechanistischen Prozesses?
Es gibt Leute wie den deutschen Neurophysiologen Wolf Singer, die eine solche Argumentation zum Anlass nehmen, den freien Willen zu leugnen und sogar über die Frage nachzudenken, ob wir für üble Taten überhaupt zur Verantwortung gezogen werden können, wenn wir uns doch gar nicht freiwillig für sie entscheiden. Ich halte das für eine Vermischung von Kategorien.
Reduktionismus: Alles ist Physik?
Der freie Wille ist ein sehr nützliches Gedankenkonzept, wenn wir über Psychologie oder über Soziologie nachdenken. Er ist ein Begriff, der in ganz bestimmten wissenschaftlichen Feldern beheimatet ist. In physikalischen Theorien kommt er nicht vor. Freilich: Man kann Wissenschaften auf andere Wissenschaften zurückführen, damit hatten wir schon große Erfolge. Wir haben heute großes Vertrauen in die Annahme, dass die Chemie prinzipiell auf die Quantenphysik zurückgeführt werden kann – auch wenn es unsere Fähigkeiten heute bei Weitem übersteigt, komplizierte Chemische Reaktionen wirklich exakt Quantenteilchen für Quantenteilchen am Computer nachzuberechnen. Wir haben gelernt, dass sich Eigenschaften von biologischen Zellen sehr gut durch Chemie (und auch Physik) erklären lassen. Wir wissen, dass Gedanken mit der elektrochemischen Aktivität von Nervenzellen zu tun haben. Nirgendwo in dieser Kette gibt es eine deutliche Trennlinie, und ich bin selbst – als Reduktionist – überzeugt, dass wir die Zusammenhänge zwischen diesen Gebieten immer besser verstehen und nie auf eine unüberbrückbare Trennlinie stoßen werden. Trotzdem werden wir niemals menschliche Gedanken mit Formeln der fundamentalen Physik beschreiben. Selbst wenn wir es könnten: Es wäre einfach verdammt unpraktisch.
Menschliche Gedankenkonzepte und sprachliche Begriffe haben sich entwickelt, weil sie nützlich sind. In der Wissenschaft sind sie meist nur in einem überschaubaren wissenschaftlichen Gebiet nützlich. Auch wenn wir an die „Einheit der Wissenschaft” glauben und die Welt als ein deterministisches Uhrwerk betrachten, werden wir doch zugeben, dass wir in unserem täglichen Leben Kategorien wie „Bewusstsein”, „Wille” oder auch „Freundschaft” und „Hass” ganz zweifellos eine sehr bedeutsame Realität zugestehen. Das ist kein Makel, das ist bewährte Taktik.
Emergente Eigenschaften
In der Physik waren Begriffe wie „Temperatur” oder „Druck” bekannt, lange bevor diese Begriffe mit dem Rest der Physik sauber in Verbindung gebracht werden konnten. Ludwig Boltzmann konnte dann durch schöne Formeln zeigen, dass sich diesen Begriffen eine saubere Bedeutung zuordnen lässt, wenn man das mechanische Verhalten von Atomen berechnet. Die Temperatur hat mit der durchschnittlichen Geschwindigkeit der Atome zu tun, der Druck mit dem Impuls, den sie auf einen umgebenden Behälter ausüben, wenn sie an der Wand anstoßen. Boltzmann beschrieb diese Größen statistisch – das ist nur bei einer großen Anzahl von Teilchen wirklich sinnvoll. Den Druck eines einzelnen Atoms angeben zu wollen, ist ein eher nutzloses Unterfangen. Druck und Temperatur sind emergente Eigenschaften eines Gases, die nicht in den einzelnen Gasatomen festgeschrieben sind. Trotzdem käme niemand auf die Idee zu sagen: Druck und Temperatur gibt es nicht! Es gibt nur Geschwindigkeitsvektoren und Massen von Teilchen, sonst nichts! Druck und Temperatur sind eine Illusion!
Nein – Druck und Temperatur haben sich als nützliche Begriffe erwiesen, daher verwenden wir sie. Mit dem freien Willen ist es wohl ähnlich: Auf Ebene der fundamentalen Physik ist er eher nutzlos. Aber er ist ein emergentes Phänomen, das aus dem Zusammenspiel einer großen Anzahl von Nervenzellen entsteht – und als solches emergentes Phänomen ist er sichtbar und erkennbar, auch wenn er auf fundamentaler Ebene genauso verschwindet wie der Druck bei Betrachtung eines einzelnen Atoms. Darüber sollten wir uns nicht wundern, das ist ganz normal.
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