Warum sieht die Welt für uns nicht besonders quantenphysikalisch aus? – Eine winzig kleine Einführung in das große Thema „Quanten-Dekohärenz”.

Die Quantentheorie liefert Aussagen, die uns seltsam vorkommen: Teilchen, die sich auf verschiedenen Bahnen gleichzeitig bewegen und sich an unterschiedlichen Orten gleichzeitig befinden, wie Wellen miteinander interferieren oder gar kurzfristig aus dem Nichts andere Teilchen entstehen oder verschwinden lassen – zu unserer Alltagserfahrung will das nicht so recht passen. Warum aber sind in der Quantenwelt der winzig kleinen Dinge solche Phänomene ganz normal, während sie in unserem täglichen Leben niemals auftauchen? Der Grund dafür ist die Quanten-Dekohärenz: Sie sorgt dafür, dass Quanteneffekte auf kleine Dinge beschränkt bleiben.

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Mit großen Objekten Quantenexperimente durchführen ist keine gute Idee.

Heute ist Quanten-Dekohärenz ein wichtiges Forschungsgebiet: Viele Experten auf der ganzen Welt versuchen, genauer zu entschlüsseln, woher sie kommt – doch das war nicht immer so. In vielen Quanten-Lehrbüchern oder Grundlagenvorlesungen kommt sie höchstens als Fußnote vor. Das ist seltsam, denn die Dekohärenz bestimmt ganz entscheidend, wie wir die Welt wahrnehmen.

Die Schrödingergleichung

Die wichtigste Gleichung in der klassischen Quantenphysik ist die Schrödingergleichung: Sie gibt an, wie sich die Quantenwellen, mit denen man beispielsweise einzelne Teilchen beschreibt, zeitlich verändern. Die Schrödinger-Gleichung ist eine lineare Gleichung: Das bedeutet, dass man aus zwei Lösungen der Schrödinger-Gleichung eine weitere Lösung zusammenmischen kann, die dann auch dieser Gleichung gehorcht. Wenn ich also mit der Schrödinger-Gleichung berechne, wie sich ein Teilchen nach links oder nach rechts bewegt, dann kann ich diese beiden Bewegungen zu einer Teilchen-Welle zusammensetzen, die sich sowohl nach links als auch nach rechts bewegt.

In unserem Kopf macht das zunächst mal keinen Sinn: Teilchen haben sich gefälligst in eine bestimmte Richtung zu bewegen, denken wir ganz intuitiv. Doch wenn man sich Teilchen eher als Wellen vorstellt, ist das kein großes Problem: Ein ins Wasser geworfener Stein löst kreisrunde Wellen aus – also Wellen, die sich in alle Richtungen gleichzeitig bewegen. Warum sollte das ein Teilchen nicht auch können?

Quanten-Überlagerungen finden wir an allen Ecken und Enden in der Quanten-Forschung: Teilchen drehen sich gleichzeitig links- und rechtsherum, Moleküle sind manchmal gleichzeitig zerbrochen und ganz, Photonen werden von einem halb durchlässigen Spiegel gleichzeitig reflektiert und durchgelassen. Die Schrödinger-Gleichung beschreibt ganz klar und eindeutig, wie das geschieht und welche zeitliche Entwicklung diese Quanten-Systeme nehmen.

Grautöne statt schwarz und weiß

Wichtig ist: Es handelt sich hier nicht um viele Teilchen, von denen zufällig manche in diesem, andere in dem anderen Zustand vorliegen – es handelt sich um Teilchen, die sich tatsächlich in beiden Zuständen gleichzeitig befinden. In der klassischen Physik hat man es oft mit statistischen Überlagerungen verschiedener Möglichkeiten zu tun, etwa mit einer zufälligen Mischung schwarzer und weißer Kugeln: Wenn ich daraus blind eine Kugel wähle, weiß ich nicht, welche Farbe sie hat – aber sie hat mit Sicherheit eine eindeutige Farbe. Eine echte Quanten-Überlagerung ist aber etwas anderes – nicht schwarz oder weiß, sondern immer einheitlich grau.

Und trotzdem: Wenn man die Quanten-Eigenschaften misst, bekommt man immer ein eindeutiges Ergebnis. Wenn ich die Drehrichtung des Teilchens, seine genaue Bahn oder sonst eine Eigenschaft messe, dann zeigt mein Messgerät eine bestimmte Antwort an. Der Zeiger des Messgeräts begibt sich nicht in eine Überlagerung aus verschiedenen Möglichkeiten, er gibt eine klare Antwort. Mein Teilchendetektor leuchtet auf – oder eben nicht. Aber er leuchtet nicht halb auf um ein halbes Teilchen anzuzeigen.

Eine Trennlinie quer durch die Welt

Das ist schwer zu verstehen. Wenn Teilchen Überlagerungszustände einnehmen können – warum ist es damit bei der Messung dann vorbei? Warum bekommen wir eindeutige Messdaten, wenn wir Quantensysteme messen, in denen offenbar überhaupt nichts eindeutig ist? Die Messung selbst macht die Quanten-Überlagerung kaputt – das wurde lange Zeit einfach als Grundannahme betrachtet, die man nicht weiter hinterfragen soll. Damit zog man eine Grenze in der Physik ein: Man trennte die Quanten-Welt der kleinen Dinge, in der Überlagerungen erlaubt sind, von einer klassischen Welt ab, in der sich große Dinge befinden – etwa Messgeräte, Mikroskope und wir selbst. Heute zeigt sich, dass es diese Trennlinie nicht gibt. Der Übergang scheint sich ganz natürlich aus den Gesetzen der Quantenphysik selbst zu ergeben.

Wenn wir ein Quantensystem messen, bringen wir es ganz zwangsläufig in Kontakt mit einem anderen System – mit einem Messgerät, und in weiterer Folge mit dem Rest des Universums. Die Schrödingergleichung beschreibt aber nur das kleine Quantensystem – der Messprozess selbst ist in dem, was die Schrödingergleichung vorhersagen kann, also gar nicht eingebaut. (Man könnte natürlich versuchen, eine Schrödingergleichung für das Gesamtsystem – bestehend aus Teilchen und Messgerät – hinzuschreiben. Doch weil ein Messgerät aus unüberblickbar vielen Teilchen besteht, ist das praktisch nicht möglich.)

Die Messung wählt die Lösung aus

Bei der Messung zeigt sich also, dass die Schrödingergleichung nur eine Näherung für das Verhalten des Quantensystems beschreibt: Sie gibt an, wie sich das System verhalten würde, wenn es sonst nichts auf der Welt gäbe, wenn das Quantensystem niemals in Kontakt mit etwas anderem käme. Bei der Messung freilich lässt sich dieser Kontakt nicht vermeiden. Dabei tauscht das Quantensystem Information mit seiner Umgebung aus. Diese Wechselwirkung mit der Umwelt bewirkt, dass sich das Quantensystem mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr in einem Überlagerungszustand befindet, sondern in einem von mehreren ganz bestimmten Zuständen. Welche Zustände das sind, wird durch die Art der Wechselwirkung mit der Umwelt vorgegeben. Die Art dieser Wechselwirkung – also die Art des Messgerätes, die Auswahl der Messgrößen, die dadurch gemessen werden – bestimmt, welche Zustände des Quantensystems nach der Messung vorliegen können.

Ein Gerät, das misst, ob sich ein Quantenteilchen links- oder rechtsherum dreht, tritt also mit dem Teilchen auf eine solche Art in Wechselwirkung, dass den vielen möglichen Überlagerungszuständen zwischen links- und rechtsdrehend, das dieses Teilchen einnehmen kann, nur zwei bestimmte wahrscheinliche Endergebnisse übrigbleiben: Nämlich linksherum oder rechtsherum. Keine Mischung davon. Entweder schwarz oder weiß, aber niemals grau.

Wie die Art der Wechselwirkung zwischen Messgerät und Quantensystem diese ganz speziellen „klassisch erlaubten” Zustände auswählt, ist mathematisch schwer zu beschreiben. (Der Physiker Wojciech Zurek konnte auf diesem Gebiet schon einige recht schöne Ergebnisse vorzeigen. Er nennt diesen Auswahlprozess „Einselection”.) Zu forschen gibt es hier noch viel – doch erkennbar ist heute schon, dass im quantenphysikalischen Messprozess nichts Mystisches wohnt. Er ist Teil der Quantenphysik – wenn auch ein besonders komplizierter.

Zusatzlektüre für Interessierte: W. Zurek:
Decoherence and the transition from quantum to classical — REVISITED
Zum Quanten-Zufall: mehr auf naklar.at

www.naklar.at

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Kommentare (15)

  1. #1 circonia
    August 1, 2012

    Ich habe bei einem alten Zaunelement 2 Latten entfernt und das Experiment nachgertelt. Die Garagenwand sieht jetzt blutverschmiert aus. Was aber schlimmer ist, meine Nachbarin ist bei Greenpeace und will mich anzeigen. Weiß jemand Rat? Ich hol mal schnell den Hochdruckreiniger.

  2. #2 schlappohr
    August 1, 2012

    Du hättest erwähnen sollen, dass bei den Dreharbeiten zu diesem Blogartikel keine Tiere zu Schaden gekommen sind.

    Ich hoffe , dass jetzt nicht wieder der F.W. mit seinen Messoperatoren auftaucht. Aber ein Überlagerungszustand wird doch nicht nur bei einer bewussten Messung zerstört, sondern jedes mal, wenn ein Quantensystem in einem Überlagerungszustand mit einem anderen “klassischen” System interagiert, oder? Wie können sich dann überhaupt Überlagerungszustände herausbilden, in einer Welt, die voll von klassischen Systemen ist?
    Müsste nicht jede Wellenfunktion nach kurzer Zeit kollabieren?

  3. #3 ZetaOri
    August 1, 2012

    @schlappohr· 01.08.12 · 14:04 Uhr

    […] Müsste nicht jede Wellenfunktion nach kurzer Zeit kollabieren?

    Macht sie doch:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Dekoh%C3%A4renz#Einfluss_der_Umgebung

  4. #4 Florian Aigner
    August 1, 2012

    @schlappohr:
    von “bewussten Messungen” habe ich ja gar nichts geschrieben. Natürlich kommt es immer zu Dekohärenz, wenn ein Quantensystem in Kontakt mit etwas Größerem kommt. Was klein und isoliert ist, neigt zu Quanten-Überlagerungen – was groß ist oder stark an die Umwelt koppelt, ist eher klassisch.

  5. #5 ZeT
    August 1, 2012

    Ich will ja nicht nerven, aber hat es sich im WWW eingebürgert, Texte nicht mehr Korrektur zu lesen?

    Eigentlich wollte ich den Artikel ja lesen – aber der zweite Satz hat mir direkt den Rest gegeben…

    ” Eine winzig kleine Einführung in die große Thema „Quanten-Dekohärenz”.”

    Sry, aber “in die große Thema” geht halt so mal garnicht – da bekommt man Kopfschmerzen von.

    Du wolle Rose kaufe?

  6. #6 Florian Aigner
    August 2, 2012

    @ZeT:
    na, das wär aber freundlicher auch gegangen.
    trotzdem: ist ausgebessert. danke.

  7. #7 Dr. Webbaer
    August 2, 2012

    @Aigner
    Wäre es Ihrer Meinung lobenswert die hier erörterte Bedienung eines Zweispaltsystems mit geeigneter Parametrisierung (also eher keine Katzen) als Anforderung A zu verstehen, die brauchbar zuverlässig theoretisiert werden kann, und die Messung dann als Anforderung B, die Anforderungen jeweils an die Physik (“Natur”, vs. Physiklehre) oder Welt gerichtet?

  8. #8 mappleconfusers
    August 2, 2012

    Wie lässt sich denn dann Feststellen, dass sich Quantensysteme überhaupt in einem Überlagerungszustand befinden?

  9. #9 Florian Aigner
    August 2, 2012

    @mappleconfusers:
    Das ist eine sehr gute Frage: Die Art des Überlagerungszustandes gibt an, in welche klassischen Zustände das System mit welchen Wahrscheinlichkeiten übergehen kann. Diese Wahrscheinlichkeiten lassen sich messen und mit den Berechnungen vergleichen. Würde man die Quanten-Überlagerungen (die man, zugegeben, nicht direkt beobachten kann) nicht in die Berechnung einbeziehen, käme man zu einem völlig falschen Ergebnis.

    Schönstes Beispiel: Das Doppelspaltexperiment: https://www.naklar.at/content/features/quantenkollaps/
    Die hübschen Wellenmuster dort lassen sich nur erklären, wenn man annimmt, dass es diese Quanten-Überlagerungszustände gibt.

  10. #10 dasMeine
    August 3, 2012

    “Man könnte natürlich versuchen, eine Schrödingergleichung für das Gesamtsystem – bestehend aus Teilchen und Messgerät – hinzuschreiben. Doch weil ein Messgerät aus unüberblickbar vielen Teilchen besteht, ist das praktisch nicht möglich.”

    Das ist, denke ich, der entscheidende Punkt. Denn solange es _prinzipiell_ (wenn auch nicht praktisch) möglich ist, das Gesamtsystem quantenmechanisch zu beschreiben, bleibt die Frage bestehen, wie der exakte Zustand des Quantensystems festgelegt wird. Mag ja sein, dass durch die Dekohärenz ein Zustand extrem viel wahrscheinlicher ist, als ein anderer, aber das Gesamtsystem ist immernoch eine Überlagerung.

  11. #11 Ralph Ulrich
    August 4, 2012

    Wir können nie und nimmer eine physikalische Gleichung für koheränte Quantenzustände schreiben. Im Prinzip sind rätselhafte Quantenzustände nichts anderes als Scharze Löcher: Ein anderes Raumzeit Kontinuum! (*)

    Die Quantenzustände dekoherieren um mit unserer Zeit zu koherieren!

    (*) irgendwo im Forum wurde geschrieben, dass ein Photon von der Energie pro Raum ein schwarzes Loch sein müsste. Da schrieb ich: kein Wunder, wenn ein kleines schwarzes Loch durch Hawkingstrahlung zerfällt, bleibt am Ende ein Photon übrig, was die prinzipielle Verwandtschaft beweist!

  12. #12 ZeT
    August 6, 2012

    Sollte nicht unfreundlich rüberkommen. Ich habe nur unmittelbar davor auf einer anderen wissenschatlichen Seite mich über “Standart” aufgeregt. Hier handelte es sich wohl nur um einen Tippfehler. Der jedoch hatte mir an diesem Tag den Rest gegeben. 😉

  13. #13 Ralph Ulrich
    August 6, 2012

    “Der jedoch hatte mir an diesem Tag den Rest gegeben. ”
    Unfassbar schlechter Ausdruck für den Sachverhalt eines Schreibfehlers. Die letzte Kugel ist es nicht, oder? Diese affektierte Ausdrucksweise erinnert mich an gekrönte Häupter, die bei Hungersnot als Abhilfe Kuchen empfehlen. Dieses Luxusproblemchen gibt mir heute Abend fast den R…

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    Mai 16, 2013

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  15. #15 interessierter ganz kleiner Anfänger
    Heíligenkreuz
    August 30, 2014

    Mal eine ganz dumme praktische Frage von einem Laien:

    Ist man sich sicher, dass man es mit nur einem Teilchen (ist man sich überhaupt einig, dass bez. was ein Teilchen ist?) zu tun hat, welches dann zwei gegensätzliche Zustände annimmt? Es wird für die Gleichung angenommen – denn dadurch lassen sich Phänomene voraussagen- richtig verstanden? Ist aber die Berechnung einer Wahrscheinlichkeit, nicht einfach die Berechnung einer Möglichkeit?

    Wie weit kann man wirklich von “Teilchen” als einzelnen Objekten ausgehen? Je kleiner etwas ist, desto schwieriger wird es an seine “Spuren” zu kommen, die von dessen Existenz zeugen. Ist Teilchen nicht auch nur die begriffliche Beschreibung für einen weiteren Zusammenhang, den ich in beliebig weitere Zusammenhänge auflösen kann? Woran werden sie “festgemacht” – Phänomene, die sich im Großen beschreiben lassen und für ihre Voraussage/Berechnung kleine Einheiten im Modell brauchen?

    Inwieweit kann man wirklich von Eigenschaften an einem einzelnen Etwas ausgehen? Auf die Eigenschaften schließt man doch nur durch Wechselwirkung mit eben diesen großen Systemen. Sind diese kleinen unbeobachtbaren Systeme nicht nur mathematische Behelfsgrößen um Phänomene zu erklären?

    Anders gefragt: kann ich durch zwei Löcher an der Wand wirklich feststellen, dass ein und dieselbe Patrone (wenn nicht in Wirklichkeit doch Hammer und Meisel) zweimal gleichzeitig getroffen hat? Noch dazu, wenn ich weder die Patrone noch den Schießenden jemals gesehen habe?
    und dem Messgerät Auge nicht zu trauen ist?

    Was weiß man wirklich ( nicht rethorisch) ? Welche sind die tatsächlich registrierten “Spuren an der Wand”?

    Übrigens danke für den Artikel. Es ist großartig, wie Sie als Fachkundiger Wissen weitergeben können ohne mit unverständlichen, zumindest ungeklärten Begriffen umschlagen zu müssen.