Gerade erst vor ein paar Tagen habe ich darüber geschrieben, dass die Dichtefunktionaltheorie eine tolle Sache ist – heute erfahre ich, dass der Vater dieser Theorie, Walter Kohn, im Alter von 93 Jahren gestorben ist.
Das ist sicher ein guter Anlass, um über sein Vermächtnis, die Dichtefunktionaltheorie nachzudenken: Sie ist eine wichtige Rechenmethode, die in der modernen Materialwissenschaft eine entscheidende Rolle spielt. Quantenphysikalisch betrachtet befindet sich ein Elektron nicht an einem fest definierten Punkt, es ist ähnlich wie eine Wolke im ganzen Raum verteilt. An manchen Orten ist die Elektronendichte höher, an manchen Orten ist das Elektron praktisch nicht vorhanden – und genau diese Elektronendichte ist die entscheidende Größe, mit der man in der Dichtefunktionaltheorie wichtige Materialeigenschaften ausrechnen kann. Kohn war zwar Physiker, für die Dichtefunktionaltheorie erhielt er allerdings nicht den Physik-, sondern den Chemienobelpreis.
Kohns Tod ist aber auch ein guter Anlass, über ganz andere Dinge nachzudenken: Walter Kohn war ein Flüchtlingskind. Er wuchs in Wien auf, als Sohn jüdischer Eltern, in einer Zeit, in der der Antisemitismus immer grauenhaftere Ausmaße annahm. Kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs konnte er noch durch einen Kindertransport nach England fliehen, seine Eltern wurden von den Nazis ermordet. Walter Kohn ging 1940 nach Kanada, später in die USA. Walter Kohn ist nicht emigriert, er wurde vertrieben – auf diesen Unterschied legte er Wert. Sein Verhältnis zu Österreich und zu seiner Heimatstadt Wien war bis zum Schluss kompliziert. Das ist verständlich: Auch späte Auszeichnungen, Ehrendoktorwürden und Ehrenzeichen der Republik können alte Wunden nicht völlig heilen.
Ich durfte Walter Kohn im Jahr 2013 kennenlernen – und das eher zufällig. Ich war damals mit einem Architekten-Team der TU Wien unterwegs, das ein innovatives Solar-Haus konstruiert und gebaut hatte. Beim Solar Decathlon, einem großen internationalen Wettbewerb für Solar-Gebäude, er damals in Kalifornien stattfand, wurde das österreichische Sonnenhaus aufgestellt. (Das Team konnte diesen Wettbewerb sogar gewinnen.) Walter Kohn hatte davon gehört und kam vorbei, um sich das Haus der TU Wien anzusehen – auch das zeigte seine noch immer deutlich spürbare Verbindung zu seiner Heimatstadt. Als einziger Physiker unter lauter Architekten nutzte ich die Gelegenheit, mit ihm über Physik zu plaudern, er ließ sich von mir meine Dissertation erklären und wollte wissen, was sie mit Dichtefunktionaltheorie zu tun hatte. (Antwort: Nicht sehr viel.) Spürbar wurde aber auch, dass er sich mittlerweile sehr für andere Themen interessierte – für Energiefragen und Umwelt.
Walter Kohn war auch in hohem Alter noch ein vorausschauender Mensch. Einer, der viel erreicht hat, einer, der viel erlebt hat – Grauenvolles und Schönes. Danke, Walter Kohn, für die Dichtefunktionaltheorie!
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