Neulich ging die Meldung durch die Presse, dass bei einem Vorfall im elsässischen Kernkraftwerk Fessenheim im April 2014 der Reaktor durch das Einbringen von Bor in den primären Kühlkreislauf heruntergefahren werden musste. Der Vorfall ist zwar nun schon 2 Jahre her, aber bei der aktuellen Stimmung noch mal erneut hochgekocht. Dabei wurde vor allem bemängelt, dass die Relevanz des Vorfalls in den entsprechenden Pressemitteilungen heruntergespielt worden sein soll.
Wie immer will ich mich hier nicht über die politischen und/oder gesellschaftlichen Implikationen von so einem Vorfall auslassen, sondern mich nur mit der Technik beschäftigen und die Frage aufwerfen, wie man eigentlich durch das Einbringen von Bor einen Reaktor “ausknipsen” kann und was sowas technisch überhaupt bedeutet.
Grundsätzlich funktioniert ein Atomreaktor durch Kernspaltung. Das heißt, ein schnelles Neutron trifft auf ein Uran-Atom, spaltet dieses und schlägt dabei 2-3 weitere Neutronen heraus. Von diesen freigewordenen Neutronen werden ein paar moderiert (abgebremst, verlieren Energie) und absorbiert und ein paar treffen wieder auf Uran-Atome und schlagen dort neue Neutronen raus. Wenn ich im Mittel (also inklusive Moderation etc.) pro Kernspaltung weniger als ein Neutron produziere, dann geht mein Reaktor wieder aus und es stehen nur ein paar Uranstäbe in der Gegend herum. Wenn ich im Mittel mehr als ein Neutron produziere, dann steigt der Neutronen- bzw. Energieoutput exponentiell bis zur Kernschmelze bzw. bei einer Atombombe zur Explosion (bei einer Atombombe ist das ja durchaus der beabsichtigte Effekt, dort schnellstmöglich hin zu kommen).
In einem Atomkraftwerk sollen die Spaltung möglichst stabil bei “eine Spaltung produziert im Mittel eine weitere Spaltung” gehalten werden und dies geschieht primär durch Steuerstäbe. Diese werden im Inneren des Reaktorbeckens zwischen die Brennstäbe geschoben und bestehen aus einem neutronenabsorbierenden Material, wie z.B. Cadmium oder Bor. Je nachdem, wie viele von ihnen wie nahe an die Brennstäbe heran gebracht werden (reine physikalische Nähe), absorbieren sie mehr oder weniger Neutronen, die dann nicht mehr für die Kernspaltung zur Verfügung stehen.
In der Realität wird immer abwechselnd ein wenig über, und dann wieder ein wenig untersteuert und somit die Rate im Mittel bei “eine Spaltung produziert eine weitere Spaltung” gehalten und ist mit entsprechender Steuerelektronik automatisiert.
Allerdings lässt sich die Neutronenproduktion so immer nur mit einer gewissen Wartezeit beeinflussen, da mit diesem Absorptionsmechanismus nur die verzögerten Neutronen beeinflusst werden können. Sprich, wenn ich einen Steuerstab fahre, dann reagiert mein Reaktor erst nach einigen Sekunden bis Minuten mit einer Leistungsänderung (Vorausschauendes Fahren nicht nur im Straßenverkehr *g*). Gleichzeitig sind die Steuerstäbe so ausgelegt, dass bei einer Störung o.ä. (z.B. wenn der Strom ausfällt) die Stäbe in den Reaktor fallen und ihn somit abschalten. Sprich eigentlich sollte dieser Mechanismus für sich alleine völlig ausreichen um einen Reaktor zu steuern. Dies hat bei dem Vorfall in Fessenheim allerdings wohl nicht mehr ausreichend funktioniert, so dass zu Plan B gegriffen werden musste. Das heißt in dem Fall einen weitere Absorptionsmechanismus mit ins Spiel zu bringen.
In einem Leichtwasserreaktor werden die Neutronen von normalem Wasser moderiert, welches die Neutronen auch zu einem bestimmten Grad absorbiert (eigentlich unerwünscht, da leistungssenkend). H2O (bzw. H) hat einen integralen Absorptionsquerschnitt von ca. 0,33mbarn. Effektiver sind z.B. Schwerwasserreaktoren mit Deuterium (D2O) mit einem Absorptionsquerschnitt von ca. D(abs xs)=0,0005mbarn, wo eben wesentlich weniger Neutronen an das Wasser verloren gehen. Um diesen Absorptionsmechanismus jetzt noch präziser zu kontrollieren, werden kleinste Mengen von Bor in das Wasser eingebracht. Bor besteht aus den beiden natürlichen Isotopen B10 und B11, wobei zweiteres einen Absorptionsquerschnitt von 0,0055 mbarn und ersteres einen von 3835 mbarn hat. Darüber hinaus ist der Absorptionsquerschnitt auch noch sehr stark von der Energie der Neutronen abhängig, die absorbiert werden sollen und gerade Bor zeichnet sich dadurch aus, dass es über einen großen Energiebereich recht stabil ist. Daher kann durch die Konzentration von Bor im Wasser des Reaktorbeckens recht zuverlässig die Neutronenproduktion (und damit die Leistung) beeinflusst werden. Das kann man im normalen Betrieb z.B. sehr gut zur Feinabstimmung über längere Zeit hinweg benutzen.
Um also auf Fessenheim zurück zu kommen. Wenn ich also (aus welchen Gründen auch immer) die Spaltung nicht mehr mit hinreichender Präzision durch meine Steuerstäbe kontrollieren kann, dann kann ich immer noch die Spaltrate über die Konzentration des Bors im Kühlwasser herunterfahren. Bzw. wenn ich sie ganz ausschalten will, dann kippe ich einfach ein Fass mit Borwasser ins Reaktorbecken und das Ding ist aus. Letzteres wäre allerdings so, als würde ich den Gasherd in der Küche mit dem Pulver-Feuerlöscher ausmachen … nicht unbedingt die optimale Lösung, denn wenn man den Reaktor (oder den Gasherd) nachher nochmal benutzen möchte, dann müsste das Zeug da nachher auch wieder rausgeholt werden.
Langer Rede kurzer Sinn: Die Reaktorabschaltung mit Bor ist ein Plan B, der normalerweise vermieden werden sollte. Außerhalb von Funktionstests o.ä. ist es wohl in Deutschland (bzw. Westeuropa) noch nicht wirklich vorgekommen. Da ich mit normalen AKWs nichts zu tun habe, kann ich nichts zu den Betriebsabläufen sagen. Aber wenn ich raten müsste, dann würde ich sagen, dass dieser Plan B nur ausgeführt wird, wenn Plan A mit den Steuerstäben nicht funktioniert … und das ist immer ein schlechtes Zeichen.
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