Genetik ist toll, macht Spaß und ist in manchen Situationen sogar lebensentscheidend. Da ich davon aber nicht viel Ahnung habe, die über die Lektüre von ein paar Wikipedia-Artikeln hinaus geht, habe ich Hilfe von einer richtigen Biochemikerin mit einem Faible für quantitative Genetik bekommen, die mal ein wenig Licht darauf werfen wird, warum die Stammzellenspende bei Astrid (Ada) so viel komplizierter ist als bei mir.
Daher hier der Gastbeitrag von Dr. Nina Müllers:
Vor einiger Zeit war Nucular/Tobias so freundlich, einen Hilfeaufruf für eine Leukämiepatientin mit gemischt nigerianisch-europäischem Hintergrund zu verbreiten.
Als ob die Diagnose eines aggressiven Blutkrebses nicht schon schlimm genug ist, ist ihre Situation noch brisanter als die des durchschnittlichen (europäischen) Blutkrebspatienten.
Blutkrebs hat viele Gestalten, in diesem Fall handelt es sich um akute myeloische Leukämie, einer Veränderung der blutbildenden Vorläuferzellen aus dem Knochenmark. Bei Blutkrebs kann eine bestimmte Sorte von Mutation ursächlich sein, nämlich eine sogenannte Chromosomenaberration wie für das Philadelphia-Chromosom (1) beschrieben. Dabei überkreuzen sich die langen Arme von Chromosom 9 und 22 und tauschen ihre Plätze; der Teil, der an das Ende von Chromosom 9 gehört, ist jetzt an Chromosom 22 und umgekehrt. Normalerweise würden aus den Sequenzen der beiden Chromosomen Gene abgelesen werden und ggf. daraus Proteine und Enzyme für die Zellen entstehen. Durch die Translokation sind die Genprodukte mutiert. Eines der ursprünglichen Genprodukte ist ein wichtiger Regulator für das Wachstum von Zellen. So ist das Wachstum der Zelle nicht mehr im Gleichgewicht und ein Krebs kann entstehen.
Die Therapie eines Blutkrebses bedeutet oft, die Vorläuferzellen des Blutes durch eine Chemotherapie oder eine Bestrahlung auszuschalten, in der Hoffnung, daß dieser Reset die mutierten Zellen in den Zelltod treibt. Oft klappt das nur, wenn die Medizin drastische Methoden anwendet und sicherstellt, alle blutbildenden Zellen zu erwischen. Das ist ein heftiger therapeutischer Eingriff und wird nur dann durchgeführt, wenn die blutbildenden Zellen wieder ersetzt werden können. Entweder durch eine eigene Spende oder die eines geeigneten Spenders.
Bei Bluttransfusionen muß die Blutguppe (2) und der Rhesusfaktor von Spender und Empfänger übereinstimmen, sonst kommt es zu einer Inkompatibilitätsreaktion, das heißt, daß bestimmte Oberflächenmoleküle auf den Blutzellen des Spenders als fremd erkannt und die Zellen zerstört werden. Diese Oberflächeneigenschaften werden durch einige wenige Gene bestimmt.
Bei Transplantationen kommt eine weitere Dimension an Oberflächenmolekülen hinzu: Der Major Histocompatibility Complex (MHC). Bei der Blutgruppe gibt es für das Allel „Blutgruppe A“ entweder „vorhanden“ oder „nicht vorhanden“. Da Menschen immer ein Allel von der mütterlichen und eines von der väterlichen Keimzelle haben, ist bei einem Individuum mit der Blutgruppe A also folgende Variation möglich: A-, -A oder AA. Im Fall von AA nennt man das Vorliegen desselben Allels von Vater und Mutter „homozygot“, wenn nicht dasselbe Allel vorliegt, spricht man von „heterozygot“.
Beim MHC liegen für jeden Lokus (hier dem Äquivalent der Blutgruppe A) _hunderte_ Allele vor. Und der MHC hat Klasse I und II Gene – die Kombinatorik daraus ist riesig. Man kann davon ausgehen, daß alle Menschen für jeden einzelnen Locus eines MHC-Genes heterozygot sind. Kinder unterscheiden sich von einem Elter immer 50% und dafür daß ein Geschwister denselben Haplotyp wie ein anderes Geschwister hat, besteht eine Chance von 1:4. Für genau das Allel. Für jedes weitere besteht wieder eine Chance von 1:4.
Ein guter Stammzellspender ist dem Empfänger genetisch ähnlich. Je ähnlicher, desto besser, will sagen: möglichst viele von den Allelen des MHC sind gleich.
Daß ein Kaukasier einen kaukasischen Spender findet, ist relativ gut möglich. Auch wenn die Kombinationen des MHC eine große Anzahl Möglichkeiten ergeben, hängt sie von der Anzahl der vorhandenen verschiedenen Allele im Genpool ab. Das heißt, von der genetischen Variabilität, die zu einem Zeitpunkt in einer Population vorhanden ist. Faszinierenderweise kann man anhand der vorhandenen genetischen Variabilität, bzw. dem Vorhandensein bestimmter Allele in Populationen, die erdgeschichtliche Wanderung des Menschen nachvollziehen. Aus Zentralafrika hat sich _H. sapiens_ ein wenig nach Süden und auf die arabische Halbinsel vorgewagt und hat sich dann nach Asien, Australien und Europa getraut. Die Amerikas kamen erst zum Schluß. Dabei war die Ausbreitung entlang der Küsten schneller als auf dem Festland (5). Die Gruppe, die nach Europa ging, hat noch ein paar Allele vom Neandertaler(4) übernommen, die Gruppe, die auf dem Weg nach Asien war, hat ein paar Allele vom Denisova-Menschen(3) bekommen.
Da nur ein kleiner Teil von Individuen einen bestimmten Teil der Erde bevölkert haben, haben sie nur einen Ausschnitt aller möglichen Allele mitgenommen und den Rest verloren, ein sogenannter genetischer Flaschenhals ist entstanden. Allein am Ursprung des Menschen ist noch die volle Bandbreite genetischer Variabilität vorhanden.
Kaukasier unterscheiden sich untereinander nicht so sehr wie Afrikaner untereinander. In Afrika ist die genetische Variabilität für den Menschen am größten. Unter afrikanischen Stämmen ist die Variabilität noch hoch. Und hier kommen wir wieder zu Ada; daß ein Europäer als Spender für sie in Frage kommt, ist nahezu ausgeschlossen. Die Wahrscheinlichkeit, daß alle gesuchten Allele durch den Flaschenhals gekommen sind, ist verschwindend gering. Sie braucht einen Spender, der denselben Ausschnitt an genetischer Variabilität abbildet wie sie selbst. Also eine Mischung aus dem Gebiet ihres Stammes und einem europäischen Elternteil.
Der Anteil von gemischten Spendern ist in den Spenderkarteien mit 3% angegeben. Daß einer der 3% ihre Mischung hat, wäre wundervoll, aber ist nicht sehr wahrscheinlich.
Daher an dieser Stelle der allgemeine Aufruf: Laßt Euch genotypisieren, ob ihr als Spender für einen Krebspatienten in Frage kommt. Und wenn ihr nigerianisch-europäischer Herkunft seid, dann laßt euch _schnell_ genotypisieren. Bei Ada ist die Wahrscheinlichkeit auf einen sehr ähnlichen Spender zu treffen klein, aber nicht unmöglich. Hinterher fühlt man sich wie Supermann/-frau: Stammzellspender können nämlich Leben retten.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Philadelphia-Chromosom
- https://de.wikipedia.org/wiki/AB0-System
- https://de.wikipedia.org/wiki/Denisova-Mensch
- https://de.wikipedia.org/wiki/Neandertaler
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