Krebs zu bekommen ist immer ein stochastischer Prozess. Das heißt, es gibt lediglich Wahrscheinlichkeiten und niemals eine hundertprozentige Gewissheit, mit der man sagen könnte “Dieser Lungenkrebs kommt vom Rauchen” oder “Diese Leukämie kommt von dieser Bestrahlung”… Aber manchmal kann man es eben doch mit einer hohen Sicherheit von über 50% zuordnen und sagen: “Dieser Krebs ist durch diese Atombombe verursacht worden”, dann gilt juristisch die Schuldfrage als geklärt, mit allen daraus folgenden Konsequenzen.
Um diese sog. Verursachungswahrscheinlichkeit zu bestimmen, gibt es spezielle (Computer-)Programme, die nach Eingabe der relevanten Daten (Krebsart, Strahlendosis, etc. pp.), dann ebenjene quantifizierte Wahrscheinlichkeit ausspucken und damit auch im Rechtssystem Relevanz (oftmals das wichtigste Einzelkriterium) haben. In meiner beruflichen Karriere, inkl. Strahlenschutz, habe ich selber nie mit diesen Programmen gearbeitet, da ich mich niemals mit den Folgen der ionisierenden Strahlung beschäftigt und nur darauf geachtet habe, dass alle gesetzl. Regelungen eingehalten und der “Spirit” des Strahlenschutzes befolgt wird. Dies habe ich erst jetzt nach meiner eigenen Leukämieerkrankung getan und mich dann im Zuge des Rechtsstreits mit der Berufsgenossenschaft (um Anerkennung meiner Leukämie als Berufskrankheit) in die entsprechenden Programme eingearbeitet. Da die Programme von “Leuten wie mir” für “Benutzer wie mich” geschrieben wurden, habe ich bei der Einarbeitung jetzt auch keine großen Überraschungen erlebt. Es hat sich ganz im Gegenteil sehr normal angefühlt, eben wie das, was ich sonst auch mache.
NIOSH-IREP ist “das amerikanische Programm” aus Oak-Ridge, entstanden im Auftrag der US-amerikanischen Bundesbehörde für arbeitsmedizinische Forschung. Es gibt auch ein deutsches Programm namens ProZES vom BfS, was mehr oder weniger das Gleiche tut, aber dem werde ich auch noch mal einen eigenen Artikel widmen und daher hier nicht weiter erwähnen. Dadurch, dass es eben “das amerikanische Programm” ist, ist es eben auch auf deren landesspezifische Besonderheiten ausgelegt. Sprich, epidemiologische Daten des amerik. Krebsregisters, Spezialsektion für Arbeiter im Atombombenbau und Kriegsveteranen etc. pp. Gerade letztere hat dann das deutsche Programm eben nicht mehr. Generell kann man aber sagen, dass die Ergebnisse recht gut übertragbar sind und die Unterschiede zwischen den Ländern locker von den anderen Fehlerbalken untergebügelt werden.
Um das Programm zu nutzen, muss man einfach nur auf die Web-Interface-Seite gehen und dann dort die entsprechende Eingabemaske verwenden (Fig1). Man kann das ganze auch etwas elaborierter machen, indem man eine Quelldatei erstellt, in der diese ganzen Informationen zusammengefasst sind, aber grundsätzlich ist das gar nicht nötig. Ich kann da nur jedem Leser hier empfehlen, es auch einfach mal auszuprobieren. Einfach einen fiktiven John Doe erstellen, Lebensdaten erfinden, Krebsart aus dem Drop-Down Menü aussuchen, Dosis festlegen und auf “Berechne Verursachungswahrscheinlichkeit” klicken. Schon spuckt das Programm eine Reihe von Werten aus, mit denen man sogar in erster Näherung etwas anfangen kann. Die Berechnung meines werten Kollegen der Berufsgenossenschaft nachzuvollziehen, hat mich genau 5 Minuten Arbeit gekostet (Fig3). Etwas gewöhnungsbedürftig ist die Einheit, die für die Dosis benutzt wird, denn selbige wird in centi Sievert angegeben. In meinem Beispiel ist die Dosis (wie ja schon berichtet) mit 1mSv/a (0.1cSv/a) kontinuierlicher Dosis über 6 Jahre angegeben worden (Fig2).
Etwas luxuriöser wird es, wenn man dann ein Excel-Template mit den entsprechenden Daten ausfüllt und das Webinterface damit füttert. Dann kann man sich auch einfach mal ein kleines Progrämmchen schreiben, das ausprobiert, ab welcher Dosis denn überhaupt die “rechtlich bindende” Verursachungswahrscheinlichkeit von 50% erreicht ist. Bei mir wird das etwas komplizierter, je nachdem, was für verschiedenen Strahlenexpositionen ich jetzt annehme. Neutronen und Alphas hauen halt mehr rein als Photonen und verschiedene Zeitpunkte kann man auch noch berücksichtigen. Daher habe ich das auch noch mal für unser NHL-Fallbeispiel gemacht, was man recht stark vereinfachen kann, wenn man denn will.
Beispiel: Leserfall NHL
Wenn man das Programm mit den Kerndaten des Falles füttert (Geburtsdatum 1951, Diagnose 2006, NHL, 1 Exposition im Jahr 1968 mit >250keV Photonen), dann muss man eine Dosis von 600mSv annehmen, um auf eine Verursachungswahrscheinlichkeit von über 50% in der hohen Percentile zu kommen. Eine Einmaldosis von 0.6Sv ist jetzt nicht wirklich viel für eine Strahlenbehandlung, vor allem nicht in den 60er Jahren. Das ist ein plausibles Szenario.
Bei mir muss man wie gesagt etwas mehr stricken, aber unterm Strich braucht man da auch schon über 350mSv insgesamt, um die 50% Hürde zu knacken. Hier ist die Dosis etwas geringer als die 600mSv von oben, was einfach daran liegt, dass Neutronen und Alphas etwas stärker (und anders) wirken als reine Photonen, aber mehr als ein müder Faktor 2 ist das (in diesem Fall) auch nicht. 350mSv ist fürs reguläre Arbeiten in solchen Anlagen furchtbar viel. Die komplette Lebensdosis ist für Personal im Bereich ionisierender Strahlung auf 400mSv begrenzt und sollte auf keinen Fall erreicht werden. Kollegen von mir, die ihr Leben lang meine Art von Job gemacht haben, bekommen in der Regel max. 20-30mSv extra im Leben ab, keine 300mSv. Was das für mich heißt, werde ich an andere Stelle diskutieren, denn hier soll es um das Programm gehen.
Es ist recht logisch, dass sich diese Grenze von 50% Verursachungswahrscheinlichkeit genau in dem Bereich des Stochastischen Effektes bewegt, wo das LNT-Modell aus dem Niedrig- bis Mitteldosis Bereich herauskommt, in den Hochdosisbereich übergeht und eben nicht mehr linear ist. Genau in dem Bereich, wo man mit den Strahlentherapien ansetzt. Den Bereich, den man niemals im regulären Betrieb erreichen sollte, aber noch mit einer guten Chance überleben kann… auch ohne Stammzellentransplantation. Dieser Bereich sollte auch (ganz ganz grob) für alle Krebsarten, Einwirkzeiten und Expositionshistorien gleich sein. Ein Faktor von 2, 3 oder 6 mag da vielleicht noch rauszukitzeln sein, aber sicherlich keine Größenordnung.
Das heißt, jetzt wird es Zeit dem Programm mal unter die Haube zu gucken und sich anzuschauen, was es da überhaupt so vor sich hinrechnet. Die Atombombenabwürfe in Japan bildeten eine ausreichende Datenbasis, aufgrund derer für nahezu alle Krebsarten eine exposure-response relationship kurz ERR ermittelt werden konnte (dazu noch mal ein separater Artikel). Diese werden mit weiteren Studien ergänzt (wenn vorhanden) und bilden dann ein Modell, auf die das Programm Statistik in Form von Dummikandidaten loslässt. Diese Dummikandidaten sollten sich dann nach den Vorgaben des Modells normalverteilen und damit die Ergebnisparameter liefern. Dabei wird bei allen Krebsarten, außer für Leukämie und Lungenkrebs (durch Radon), von einem linearen Zusammenhang ausgegangen, was einen ERR/Sv Koeffizienten liefert. Das ist in seiner Essenz das LNT-Modell, von dem ich hier schon seit Jahren erzähle.
Bei meiner Leukämie (ALL) ist es ein wenig komplizierter, aber auch durchau kein Hexenwerk. Hier geht man (ebenfalls auf Basis der A-Bomben) von einem linearquadratischen Modell mit je zwei freien Parametern, Patientenalter und Zeit seit Exposition für eine akute Exposition mit Photonen und Elektronen aus und von einem linearen Zusammenhang für alles andere [1]. Eine Geschlechtsabhängigkeit wird vernachlässigt, obwohl moderne Zahlen da schon eine eindeutige Korrelation zum Nachteil der Männer belegen.
Allein die Lebensbedingungen einer rein japanischen Bevölkerung in einer 2. Weltkriegs-Nahrungsversorgungsituation (hara-hachi-bu) mit einer deutschen (geschweige denn amerikanischen) im Jahre 2018 zu vergleichen, finde ich schon arg gewagt. Na gut, in der Psychologie sind arme hungrige Erstsemesterstudenten, die eine Tafel Schokolade fürs Ausfüllen von Fragebögen in der Mensa bekommen, ja auch repräsentativ für die internationale Bevölkerung. Aber absolut jedem sollte klar sein, dass eine Atomwaffenexplosion doch ein wenig was anderes ist als ein Stück Co60 auf der Straße zu finden. Naja, darüber habe ich mich in den meinen ganzen LNT-Artikeln hier ja schon zur Genüge ausgelassen und muss es sicher nicht noch einmal wiederholen. Es ist halt das Beste, was wir haben … oder?
Die INWORKS-Studie von 2015, deren Datengrundlage hauptsächlich auf Europäern und US-Amerikanern basiert, ist noch nicht eingebaut, obwohl das NIOSH essentiell an dieser Studie beteiligt gewesen ist. Geschweige denn die deutschen DKKR-Studie des BfS, aber ich schweife ab und meine Kritik könnt ihr in den entsprechenden speziellen Artikeln nachlesen.
Langer Rede kurzer Sinn: Stark vereinfachte Annahmen führen zu einem stark vereinfachten Modell. Da wird ein wenig Statistik draufgeworfen, um es reproduzierbar und vor allem quantifizierbar zu machen und die Magie ist getan. Denn um letztere geht es hier eigentlich nur. Unterm Strich ist es eine politische Entscheidung, ab welchem Punkt eine Strahlenexposition als ursächlich für eine Krankheit anerkannt wird. Die Verwendung des Programmes macht es vielleicht nicht wissenschaftlich richtig oder präzise, aber immerhin objektiv und fair und mehr kann man von einem politischen Prozess ja auch gar nicht erwarten, oder?
Die Methodik des Programmes anzuzweifeln, bringt rein gar nichts, denn auf absehbare Zeit wird es keine Alternative zu diesem Verfahren geben, um irgendwas auch nur halbwegs sinnvoll quantifizieren zu können. Aber zumindest kann man in den entsprechenden Verfahren doch schon darauf verweisen, dass diese Zahlen eben nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern im Gegenteil lieber mit Vorsicht zu genießen sind.
Quellen:
Kommentare (5)