Das Bundesamt für Strahlenschutz hat ein tolles kleines Programm, mit dem man ausrechnen kann, ab welchen Grenzwerten radioaktive bzw. Ionisierende Strahlung Schuld an einer Krebserkrankung ist. Sowohl das Programm selber, als auch mein Ausprobieren von ebenjehnem orientieren sich an dem “Original”-Programm der US-Amerikanischen Bundesbehörde für arbeitsmedizinische Forschung und wer sich wirklich dafür interessiert, aber meinen Artikel über das NIOSH-IREP Programm aus Oakridge noch nicht gelesen hat, der möge dies tun, bevor er sich diesem Artikel hier zuwendet. Wer einfach nur mal kurz reinschnuppern möchte, der kann gerne einfach weiterlesen.
Was als erstes auffällt ist der große Hinweis, dass sich das Programm (Stand Sommer 2019) noch in der Erprobungsphase befindet (Letztes Update Jan 2018). Aber dafür funktioniert es mMn schon mal ganz gut. Da will sich wahrscheinlich jemand absichern?! Unter der Haube funktioniert es genauso, wie das US-amerikanische Programm, sprich es wird die Atombomben- Kohorte genommen, an die aktuelle Bevölkerung (in diesem Fall Deutschland) angepasst, mit ein paar epidemiologischen Daten validiert und danach mit Monte-Carlo traktiert, bis eine quantifizierbare Zusammenhangswahrschienlichkeit herauskommt. Da sich das Programm explizit an NIOS-IREP orientiert, werde ich das ganze hier nicht noch mal durchkauen, sondern mich eher auf die Unterschiede konzentrieren.
ProZES gibt es als Download für Windows und läuft dann auf dem eigenen Rechner und nicht über ein Web-Interface auf einem Server im Fichtenwald von Knoxville, Tennessee. Das ist schon mal ein großer Fortschritt, denn die Rechenkapazität, die es dafür braucht ist, nicht der Rede wert. Außerdem kommt es mit einer funktionellen GUI daher, die es erlaubt das verwendete Patientenprofil als Exel-Datei (wieso muss es immer Microsoft sein) und den Bericht als .pdf abzuspeichern*. Praktisch. Ebenso kann ich erstellte Excel Profile öffnen und berechnen lassen. Das funktioniert dann so wie beim Original. Sehr schön finde ich, dass es eine grafische Darstellung des Zusammenhangs zwischen der Wahrscheinlichkeit (das es wahrscheinlicher ist den Krebs von der Exposition als aus natürlichen Quellen) und der Zusammenhangswahrscheinlichkeit zu bekommen. Da die “rechtverbindliche” Definition da immer bei 50% liegt hätte man eigentlich auch nur diesen einen Wert abgeben brauchen, aber hübsch ist es trotzdem.
Unterschiede gibt es auch. Während man in NIOSH-IREP noch zwischen einer ganzen Reihe von Strahlungsarten unterscheiden kann (niedriger LET für Elektronen und Gammas jeweils im Hochnenergiebereich >250keV und im Niedrigenergiebereich, Alpha und Neutronen für den High LET) da gibt es bei ProZES nur niedrig LET für alles außer Radon und Bergbau (sprich nur Lungenkrebs). Das sieht erst mal wie ein riesiger Nachteil aus, bis man sich klar macht, dass das amerikanische Programm zwar die Eingabeoption für die verschiedenen Strahlungsarten hat, da aber bei den meisten Krebsarten keinen Unterschied macht und einfach nur ein lineares Modell benutzt. Gerade bei meiner ALL ist das ein klein wenig anders, weil es da eben noch die Option auf ein linearquadratisches Modell gibt, aber bei den meisten anderen macht es eigentlich keinen Unterschied, welche Art der Strahlenquelle man angibt.
Darüber hinaus gibt es eine Angabe der Arbeitszeit, die dann benutzt wird um eine durchschnittliche Dosisrate zu berechnen. Grundsätzlich wäre das nach dem LNT-Modell egal ob die Dosis auf einmal oder über einen längeren Zeitraum fraktioniert aufgenommen worden wäre, aber hier wird für niedrige Dosisraten eine erhöhte Unsicherheit angenommen, was sich dann vor allem bei vielen kleinen Dosen in der Perzentile entsprechend bemerkbar macht.
Der zweite große Unterschied sind natürlich die epidemiologischen Daten und die Verknüpfung mit den jeweiligen nationalen Krebsregistern (insofern es diese gibt). Da kann ich jetzt pauschal wenig zu sagen, weil man sich dafür die Dokumentation zu jeder einzelnen Krebsart angucken müsste und dafür fehlt mir eindeutig die Zeit. Für meine ALL habe ich das aber natürlich schon mal gemacht und es kann daher als ein wenig exemplarisch angesehen werden. Wie bei NIOSH-IREP sind weder die die INWORKS noch die DKKR-Studie benutzt worden, was aber auch nicht wirklich verwunderlich war, da erstere mit einem Erscheinungsdatum von 2015 noch zu neu und zweitere nicht Eindeutig ist. Was ein wenig dummer ist, ist dass die altersspezifische Abhängigkeit von ALL nicht mit eingeflossen ist. Das liegt daran, dass es dafür in Deutschland aufgrund eines fehlenden zentralen Krebsregisters (Länderregister) keine Daten gibt und dafür nur Daten aus den USA herangezogen werden könnten (wie ich dies in meinem Widerspruch gemacht habe). Dabei ist es, wie an der anderen Stelle schon gesagt, ein Unterschied um eine ganze Größenordnung von einem 1:10.000 Risiko für Kinder zu einem 1:100.000 Risiko für Menschen in meinem Alter.
Naja, jetzt sind wir schon so richtig in den Feinheiten angekommen. Wie bei NIOSH-IREP konnte ich auch hier die Rechnung meines Kollegen der BGETEM in 5 Minuten reproduzieren und wie erwartet kommt man mit einer Organdosis von 6mSv noch nicht mal annähernd in den Bereich, der für eine Anerkennung als BK notwendig wäre. Der riesige Unterschied ist hier jetzt aber, dass ich schon nach kurzen Herumspielen mit einzelnen Expositionen, die eine Inkorporation oder ähnliches bedeuten könnten, ziemlich schnell über die 50% Hürde gekommen bin. Genauer gesagt reicht eine einzelne Exposition mit 40mSv schon aus um in dem 1 Sigma Intervall die 50% Hürde zu knacken im Gegensatz zu den stolzen 300mSv, die dazu bei NIOSH-IREP nötig waren. Woran das jetzt genau liegt bzw. ob ich irgendwo einen Fehler gemacht habe kann ich jetzt spontan noch nicht sagen, werde der Sache aber sicher noch mal auf den Grund gehen, bevor ich das in irgendwelchen offiziellen Dingen benutzen werden. Ganz unplausibel ist es nicht, denn gerade bei der ALL werden bei den Programmen eben andere Modelle benutzt.
40mSv wiederum sind echt nicht viel und kann bei meinen Tätigkeiten durch echt viele Anlässe ausgelöst werden. Von einer recht kleinen Inkorporation bis zu einem unglücklich gezielten Neutronenstrahl gibt es viele Möglichkeiten sich so eine verhältnismäßig mittelmäßige Dosis unbemerkt einzufangen, wie ich ja in meinem Widerspruch schon aufgezeigt hatte. Wie gesagt muss ich das noch mal in Ruhe durchrechnen, aber momentan sieht es danach aus, dass ich mit dem deutschen Programm wesentlich besser fahren würde. Ist die Frage, wie schwer da der “in Entwicklung”-Status wiegt, vorallem bei einer so großen Diskrepanz zwischen den einzelnen Programmen.
Beispiel: Leserfall NHL
Abschließend möchte ich dann auch noch mal hier das Beispiel unseres Leserfalles mit NHL durchrechnen, weil das hier mit einer einzelnen Exposition eben relativ leicht ist. Nach Eingabe der gleichen Parameter (Geburtsdatum 1951, Diagnose 2006, NHL, 1 Exposition im Jahr 1968 mit low LET Photonen) muss ich hier allerdings die Dosis auf 1000mSv aufdrehen, bis ich die 50% Hürde knacke im Gegensatz zu den 600mSv, die noch bei NIOSH-IREP gereicht haben. Für eine Strahlentherapie ist das auch weiterhin plausibel, aber es ist halt schon ein Faktor von nahezu zwei zwischen den einzelnen Programmen.
Das mag daran liegen, dass NHL keineswegs so klar definiert ist, wie andere Krebsarten und auch die Berechnung der Organdosis sollte echt noch mal einen Unterschied machen sollte, ob nur der Fuß, oder gleich der ganze Körper bestrahlt wird. NIOSH-IREP verlässt sich darauf, dass die Dosis in “ihrem patentierten Format” eingepflegt wird, was aber auch nur ein netter Weg ist um zu sagen “wir haben keine wirkliche Möglichkeit großartig zwischen verschiedenen Arten von Dosen zu differenzieren”. Das deutsche Programm schenkt sich einfach diese Annahme und lässt sie durch den Fehler repräsentieren.
Also, bei einer so großen Bandbreite in den Ergebnissen sehe ich viel Spielraum für Interpretationen und Diskussionen. Klar ist, dass in meinem Fall von 6mSv kein Blumentopf zu gewinnen ist, aber das war ja schon von vornherein klar und nicht anders zu erwarten. Ich bin mal sehr gespannt wie hoch in einem Gutachterstreit oder gar einem Verfahren der Stellenwert der Quantifizierung solcher Programme ist und fühle mich mittlerweile mit ein wenig moderater Recherche in dem Bereich gut ausgerüstet um da in so einige spannende Diskussionen zu gehen.
*: Ich habe dem Programm hier etwas unrecht getan. Man kann dem auch .csv und ein paar andere Formate füttern. Das habe ich aber erst später herausgefunden.
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