Erinnert ihr euch noch an den Oktober 2017? Viele Messtationen in Europa hatten eine erhöhte Konzentration von Ruthenium 106 gemessen und zwar so viel, dass es von einem Unfall in einer nuklearen Anlage, einer Radionuklidbatterie oder ähnlichem stammen musste. Daraufhin gab es wilde Spekulationen bzgl. der Quelle und der Art des Unfalls, vor allem, weil keine Regierung, die die Möglichkeiten für einen solchen Unfall hatte, die Verantwortung (bzw. Schuld) dafür übernehmen wollte. Schnell gab es Ideen von geheimen Anlagen und Russland selbst brachte die Idee eines abgestürzten Satelliten mit Radionuklidbatterie ins Spiel. Was es aber wirklich war konnte nicht abschließend geklärt werden… naja, mehr oder weniger.
Jetzt, also im Juli 2019, gibt es ein umfangreiches wissenschaftliches Paper zu dem Zwischenfall, deren Autorenliste länger ist, als mein Unterarm [1]. In diesem Paper gehen die Wissenschaftler richtig ins Detail und rekonstruieren aufgrund der vielen Messdaten, die überall in Europa gewonnen werden konnten und den entsprechenden Wetterdaten zu der Zeit ziemlich genau, um was für eine Art Freisetzung es sich gehandelt haben muss und wo sie hergekommen ist. Ich finde das extrem beeindruckend, denn die Menge an Radioaktivität ist geradezu mikroskopisch und damit das ganze Verfahren ein super Beispiel dafür, was beim Thema Radioaktivitätsmessung möglich ist, wenn man sich mal richtig anstellt.
Bevor ich an dieser Stelle aber weiter über die tolle Arbeit meiner Kollegen schwärme, eine entsprechende Entwarnung an alle, die gerade an Tschernobyl denken. Wir reden hier von 0.15Bq/m^3 an Aktivität. Das ist extrem wenig. Eine normale handelsübliche Banane hat 15Bq/Stück. Wir sprechen hier also von dem hundertstel einer Banane pro Kubikmeter Luft. Das ist quasi nichts und ein wissenschaftliches Wunder, dass man sowas überhaupt messen kann.
Dass man es überhaupt gemessen hat, liegt nun wiederum daran, dass Ruthenium ein seltenes Element ist und die Radioisotope davon ein (relativ) klassischer Indikator für nucularen Hokuspokus. Sprich wenn man Ru106 in höherer Konzentration misst, dann ist irgendwas passiert, denn die Chance, dass so etwas natürlich auftritt ist verschwindend gering. Genau das ist passiert.
Am Montag den 2. Oktober 2017 gingen erst in Italien die Lampen an, dann folgte kurz darauf Tschechien, Österreich und Norwegen. 2 Tage später kamen Polen, Schweiz, Schweden und Griechenland dazu und ab dem 7. Oktober hatten 28 Stationen in ganz Europa (mit Ausnahme von Island, UK, Spanien und Portugal) das Ruthenium auf dem Schirm. Je nach Lokation bzw. Wetterlage blieb die Rutheniumwolke für 1-3 Tage vor Ort, bis sie dann weiterzog und nicht mehr nachweisbar war. Dann konnte man sich auch schon direkt daran machen, andere bekannte Rutheniumquellen (Tschernobyl, Fukushima, A-Bombentests etc.) herauszurechnen und sich quasi an die chemische Analyse geben und Wetterdaten mit ins Spiel werfen.
Insgesamt konnte man sich auf 1100 atmosphärische und 200 Bodendaten stützen. Ohne jetzt zu sehr ins Detail zu gehen konnte man herausfinden, dass das Ru106 sehr isotopenrein und maximal 2 Jahre alt war. Aufgrund der Geo- und Wetterdaten muss das Gebiet der Freisetzung im südlichen Ural liegen. In Kombination mit der Chemie spricht alles dafür, dass es aus der kerntechnischen Anlage Majak stammt, wahrscheinlich aus der Wiederaufbereitung von verbranntem Kernbrennstoff. Vielleicht ist es bei einem Fehler in der Produktion einer Ce144-Quelle entstanden.
Da Ru106 ein reiner Beta-Strahler ist, wurde jeweils das Tochternuklid Rhodium mit Gamma-Spektroskopie mittels energieauflösenden Germanium-Detektoren gemessen. Das erinnert mich mal wieder daran, dass ich unbedingt mehrere Artikel zur Gamma-Spektroskopie schreiben muss. Was man damit Tolles machen kann, sieht man ja sehr eindrucksvoll an diesem Fall.
Über die politischen Implikationen möchte ich mich hier nicht auslassen, weil das eben jenseits der Aufgaben und Expertise der Wissenschaft(ler) liegt. Man kann halt mit 99,8%-Sicherheit sagen, dass es aus Majak gekommen ist, aber die Russen geben nichts zu und die offizielle Regel ist wohl, dass Unfälle nur der IAEA gemeldet werden müssen, wenn eine gesundheitsgefährdende Menge über die Grenzen kommt… oder so. Nicht mein Bier.
Was dieser Vorfall allerdings sehr gut zeigt, ist, dass man einen ernsthaften kerntechnischen Unfall nicht verschweigen kann. Radioaktivität kennt keine Landesgrenzen und weil man Isotope so gut messen kann (und dies auch tut) fliegt ein entsprechender Vorfall auch direkt auf. Europaweit sind auch so viele verschiedenen Institutionen an der Detektion beteiligt, dass es keine Vertuschung seitens der europäischen Behörden geben könnte. Es sind halt Regierungen, NGOs, Stiftungen usw. involviert, die jeweils eine eigene Agenda und im Zweifelsfall die gleichen Messwerte haben. Bei chemischen Gefahrstoffen sähe das schon sehr anders aus. Daher kann ich bei vielen Verschwörungstheorien, die mir hier im Internet an den Kopf geworfen werden, mit Fug und Recht behaupten: “Das kann nicht wahr sein! Das wäre bemerkt worden.”
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