Sehe ich aus wie ein Japaner mit Mangelernährung im zweiten Weltkrieg? Der gerade zwei der traumatischsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte hinter sich hat? Das würde ich gerne mal in einem deutschen Gerichtssaal von mir geben… oder zumindest in einen Gutachterbericht schreiben. Basis dafür ist natürlich die Daten-Kohorte (LSS – Life Span Study) der japanischen Bevölkerung von Hiroshima und Nagasaki nach dem Abwurf der Atombomben im zweiten Weltkrieg, die bis heute Basis nahezu aller konkreten Anwendungen ist, wenn es um die Beziehung zwischen Krebsrisiko und ionisierender Strahlung geht.
Der erste große Kritikpunkt ist natürlich immer, dass von den hohen Dosen, die diese Menschen dort abbekommen haben, meist linear in den Niedrigdosisbereich extrapoliert wird. Aber da habe ich mich an dieser Stelle schon oft genug drüber ausgelassen, so dass ich es nicht noch mal machen werde. Essentiell ist dabei, dass die mikroskopischen Wirkmechanismen dabei nur indirekt (also über die epidemiologischen Statistiken) miteinbezogen werden. Vor allem Gamma-Strahlung wirkt hauptsächlich über den oxidativen Stress in der Zelle und dieser hängt wiederum von vielen anderen Faktoren ab, wobei Stress und Ernährung nur zwei prominente Komponenten sind, die sich bei den betroffenen Japanern deutlich von heutigen westlichen Bevölkerungen unterscheiden.
Ich bin aber beileibe nicht die erste Person, der das aufgefallen ist und bereits in den 50er und 60er Jahren wurden viele Anstrengungen unternommen, um die Daten-Kohorte von mangelernährten Japanern des 2. Weltkriegs auf… sagen wir mal wohlgenährte Amerikaner der Rock&Roll-Ära anzupassen. Ein Vorgang, der bis heute stetig weiter getrieben wird, um der aktuellen Bevölkerungszusammensetzung gerecht zu werden.
Grundsätzlich geht es um 120.000 Menschen, deren Daten aufgenommen wurden (inklusive 3.600 ungeborene Kinder und ähnliche Besonderheiten) und für die Dosen anhand ihres Aufenthaltsortes zum Zeitpunkt der Explosionen mit entsprechenden Korrekturen für Abschirmung durch Gebäude etc. ermittelt wurden. Diese Menschen wurden in den kommenden Jahren auch weitergehend überwacht und es wurden biologische Proben von ihnen genommen. (Zum Vergleich: Durch die beiden Atombombenabwürfe starben “direkt” 140.000 und 74.000 Menschen.)
Das ist erst mal eine sehr gute Datenlage. Viele exponierte, randomisierte Personen, eine relativ genau zu bestimmende Dosis und eine lebenslange medizinische Überwachung. Kein Wunder, dass diese Datenkohorte bis heute der absolute Goldstandard im Strahlenschutz ist. Keine weitere Datenerhebung kommt da auch nur annähernd ran. Das Nächstbeste ist die Datenkohorte der INWORKS Studie an 300.000 Kernkraftwerksmitarbeitern von 2015. Da werde ich auf jeden Fall auch noch mehrere eigene Artikel zu schreiben. Momentan haben diese Daten noch viele Nachteile gegenüber der Hiroshima Studie, aber in Zukunft könnten sie vielleicht noch aufschließen und zusammen eine wirklich gute Datenbasis bilden.
Speziell Leukämie
Wenn ich jetzt das ganze für Leukämie im Allgemeinen und meine Leukämie im speziellen (exemplarisch) herunterbreche, dann sehen die Daten aber leider schon gar nicht mehr so rosig aus, wie beim ersten Blick angenommen.
Die Patienten wurden von 1955 bis 2001 (Zeitpunkt dieser Veröffentlichung) durchgehend überwacht. Von den 120.000 überwachten Personen bekamen 944 eine Form der Leukämie und davon 113 eine Form der ALL (meine Form der Leukämie). Davon waren wiederum nur 62 für die Studie tauglich, weil sie eindeutig identifiziert werden konnten [1]. Dies beinhaltet beide Geschlechter und alle Altersgruppen, wobei auch hier wieder gilt, dass Kinder und Männer überproportional öfter betroffen sind.
Im Allgemeinen kann man annehmen, dass alle Überlebenden, die Leukämie durch ionisierende Strahlung bekommen könnten, diese bis 2001 schon hatten. Daher kann man (im Gegensatz zu soliden Krebsarten) die LSS-Daten als abgeschlossen ansehen. Aufgrund dieser 62 Fälle wurden dann die Computermodelle entwickelt, die in den NIOSH-IREP und ProZES-Programmen unter der Haube ihren Dienst tun. Weil 62 Fälle schon gar nicht mehr so viel sind, wird hier dann auch eben nicht mehr nach Geschlecht oder Alter unterschieden, obwohl das teilweise einen erheblichen Unterschied macht, wie ich z.B. in meinem Einspruch bzgl. des BGETEM-Gutachtens geschrieben hatte.
Wenn ich es also ganz hart ausdrücken möchte, dann basiert die Einschätzung, ob mein Krebs durch ionisierende Strahlung ausgelöst worden ist, oder nicht auf 15 unterernährten Japanern die am Ende des zweiten Weltkrieges die Explosion einer Atombombe miterleben mussten. Drum herum ist eine Menge schwarze Magie-Statistik betrieben worden, aber auf die harten Fakten heruntergebrochen hängt die Einschätzung, ob die Berufsgenossenschaft meine Behandlung bezahlt oder nicht, an diesen 15 Japanern, die wahrscheinlich schon vor vielen Jahren gestorben sind.
Ich möchte die Wissenschaft jetzt nicht schlecht reden, die in den letzten 70 Jahren das ganze Projekt gesteckt wurden. Ganz im Gegenteil. Ich finde es sehr beeindruckend, auf welch hohem Niveau hier gearbeitet wurde und wird. Das gilt vor allem im Gegensatz zu so manch anderen medizinischen Studien und hier erkennt man ganz klar, dass ein hoher Teil an Naturwissenschaftlern aus der Chemie und Physik am Werk waren. ABER: All das Ganze hat eben auch viele viele Schwachstellen groß wie Scheunentore und das sollte man sich bei allen Diskussionen zum Thema ionisierende Strahlung und Krebs im Hinterkopf behalten.
Quellen:
[1] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3875218/
[2] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5865006/
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