Was haben wir uns in den letzten Jahren nicht alles angehört zur Ablösung des homo öconomicus, zum Primat emotionaler gegenüber rationaler Kauf-, Wahl- oder sonstiger Entscheidungen. Die Neuroforschung, deren Erkenntnisgewinne ich selbst seit nunmehr einem Jahrzehnt mit großer Leidenschaft verfolge, hat immer tiefere Sedimentschichten unseres Denkorgans aufgetan, um Aktivierungen, oder aber auch neuronale Aktivität bei Wahlentscheidungen zu zeigen und zu erklären. Ganz gleich ob es sich um Kaufentscheidungen, Abstimmungsverhalten bei politischen Wahlen oder ganz einfach der des Partners handelt. Wir haben viel gelernt über die, zwischen unseren triebgesteuerten, älteren Hirnarealen liegenden basalen Wünsche und der steuernden Instanz des Neocortex im präfrontalen Cortex, der analog zur Freud´schen Terminologie die Streithähne Es und Überich im ICH vereint.
Meine eigene Bilanz der Erkenntnisse, bereits vor Jahren gezogen, fiel dabei eher wechselhaft aus. Die anfängliche Begeisterung über die physiologische Bestätigung z. B. Freudscher Psychodynamik, das paradigmatische Umschwenken vom verstandesgeleiteten, souveränen Entscheider hin zum emotionsgesteuerten und manchmal wenig reflektierenden Bauchmenschen hat durch eine zeitweise reißerische Attitude des Themas häufig gelitten. Die Diskussionen zum Thema hatten häufig eher den Charakter marktschreierischer Parolen denn ernsthafter Auseinandersetzung und wirklichem Verständnisses. Dennoch hat es mit Sicherheit besonders dem Marketing und ihren Entscheidern in vielen Branchen geholfen und gut getan, verstärkt verhaltenswissenschaftlich und weniger kostenrechnerisch zu argumentieren. Doch haben wir wirklich neue Erkenntnisse aus über 10 Jahren Neuroforschung gezogen?
Als ein Manko der Neuroforschung und ihrer bildgebenden Verfahren habe ich immer das Fehlen einer konsistenten Theorie hinter den „bunten Bildern“ empfunden. Nun wissen wir ja bereits seit langem, das die bloße Aktivierung bestimmter Hirnareale längst noch nichts zu dahinterliegenden psychologischen Momenten erzählt. Und warum bei Aktivierung diese und nicht andere Bilder aus unserer Erinnerung abgerufen werden, liegt eben in erster Linie genau daran, dass es sich um unsere Erinnerung handelt. Eine neue Theorie des Erlebens, konkret für Belange der Marktforschung, nämlich den Verbraucher in seinen Konsumbelangen besser zu verstehen, ist daraus nicht notwendigerweise entstanden. Aber gibt es solche Theorien wirklich nicht, oder müssen wir vielleicht nicht an anderer Stelle schürfen?
Gegenwärtig erlebt die, ich nenne sie einmal „Verhaltensprobabilistik“, eine Renaissance. Und das ganz zurecht. In die Marktforschung eingezogen unter dem label behavioral economics, im Wesentlichen begründet auf die Arbeiten und aktuell auf ein Buch des Wirtschaftsnobelpreisträgers Daniel Kahneman mit dem Titel „Thinking, Fast and Slow“, in dem er seine langjährige, äußerst fruchtbare wissenschaftliche Forschungsstätigkeit mit dem ebenfalls prägenden, aber viel zu früh verstorbenen Amos Tversky beschreibt. Ich selbst fühlte mich bei der Lektüre des Werkes wieder in meine Studentenzeit in den 80er Jahren zurückversetzt, als ich in Konstanz bei Prof. Gerd Gigerenzer Kahnemansche Verhaltensheuristiken unter Nutzung des Bayes Theorems aufzulösen versuchte. Mit Hilfe komplizierter mathematischer Formeln ist es uns letztlich aber nicht gelungen, die Entscheidungsprozesse des „Alltags“ (ein Beispiel war „unter Einbeziehung der Basisraten eines (nicht-)vorliegenden Brustkrebses, soll der Arzt eine Mammografie bei der Patientin durchführen oder nicht“) wirklich zu verbessern, geschweige denn als selbstverständliche Bewertungsgrundlage in unser alltägliches Denken und Handeln zu überführen. Geblieben ist die Einsicht, das eingeschliffene Verhaltensmuster, so genannte „Heuristiken“ doch gar nicht so falsch sind, wohl ihren „biologischen Sinn“ haben, und aufgrund ihrer einfachen, anstrengungslosen Verfügbarkeit doch viel lieber genommen werden (auch wenn sie uns nicht selten zu falschen Schlüssen oder Entscheidungen führen). Und eine schlüssige Theorie, warum das wohl so ist. Das ist nun etwa 30 Jahre her und findet heute, zurecht wie ich finde, endlich Eingang in die Konsumentenforschung.
Denn anders als es die aus der Idealvorstellung kommende ökonomische Theorie annimmt, verfügt und gebraucht der Verbraucher bei Konsumentscheidungen (oder aber, wenn er zur Wahl geht, wie jetzt zur anstehenden Europawahl) nie über sämtliche Einflußgrößen für eine „optimale“ Entscheidung und schon gar nicht kennt er deren „Gewichte“, um diese ideale und beste Entscheidung treffen zu können. Er ist daher fehlbar, aber das stört ihn nicht wirklich. So wie wir uns seinerzeit als Studenten die Zähne an probabilistischen Berechnungen ausgebissen haben und letztlich daran verzweifelt sind, vermeiden auch Verbrauchergehirne gerne den anstrengenden, hohen mentalen Aufwand und greifen lieber auf das zurück, was sie kennen. Schliesslich kommt man damit in einem Großteil der Entscheidungsfälle gut zurecht. Die Wissenschaftler sprechen hier von einer Verfügbarkeitsheuristik und erklären diese u.a. damit, dass verhaltensbiologisch das Bekannte dem Neuen vorgezogen wird, um keine (Überlebens-)Risiken einzugehen. Sicherlich probieren wir auch ab und an gerne was Neues aus, aber eben nicht da, wo es „weh tun“ könnte.
Kahneman spricht in seinem Buch eine Reihe weiterer überzeugender und für jeden nachvollziehbarer Heuristiken an, auf die ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen möchte. Das würde bei weiten den Rahmen dieses Beitrags sprengen, und Interessierenden sei dieses Buch ans Herz gelegt. Mein Punkt hier ist vielmehr der, darauf hinzuweisen, dass diese Erkenntnisse kognitiver Entscheidungsforschung als gutes Bindeglied bzw. Ersatzstück für das Theoriedefizit der Neuroökonomie dienen können, über das sich viele Kollegen in den vergangenen Jahren bei der Diskussion zum Thema Neuroforschung im Marketing sicher nicht zu Unrecht beklagt haben. Wenn man sich ansieht, wie häufig Konsumentscheidungen doch unter Zugriff auf das „Sichere“ (oder was man im Produkt als das Sichere erkennt, etwa den Markennamen) getroffen werden, wie häufig der Erfolg werblicher Kreation auf solche Heuristiken zurückführbar ist, dann wird einem auch schnell deutlich, dass das, was in uns Menschen angelegt ist, in vielen Fällen nur einen geringen Spielraum zum Experimentieren lässt. Zumindest da, wo es uns Mühe macht und wir eigentlich gar keine Zeit für großartige Vergleiche verwenden möchten. Was allerdings in sehr vielen Produktbereichen der Fall ist.
Um hier nicht falsch verstanden zu werden: sicher suchen und probieren wir immer wieder auch das Neue aus. Und Produktinnovationen, die unseren Grundbedürfnissen nach zwischenmenschlicher Kommunikation, Flexibilität, Leichtigkeit etc. entgegenkommen, werden natürlich gerne angenommen. Aber hierfür bietet die Motivationstheorie ein ausreichendes Fundament, auf dem sich diese Konsummuster gut erklären lassen. Auch die soziale Orientierung etwa im Modebereich ist psychologisch gut erklärbar. Was uns doch mit der Neuroforschung viel mehr umgetrieben hat sind Erklärungen für die Marken- oder Produktwahl in so genannten low involvement Kategorien und wie man erfolgreich darauf reagieren kann. Und hier konnte der Theorienrückgriff auf die verhaltensbiologischen Aspekte der Psychoanalyse und ihrer Erkenntnisse, auf die letztlich vieles reduziert wurde (vereinfacht ausgedrückt „Entscheidungen sind emotional getrieben, der Verstand wird überbewertet“) nie wirklich überzeugen. Denn die Verhaltensprobabilistik zeigt bzw. bestätigt vielmehr, dass nicht das rein Emotionale das Ausschlaggebende ist, sondern Konsumentscheidungen weit mehr erfahrungsgetrieben sind. Also auf das, was einmal gelernt wurde, in der Mehrzahl der Fälle gerne wieder zurückgegriffen wird.
Warum können beispielsweise Sportartikelmarken wie adidas oder Nike im Lifestylesegment mit Schuhmodellen der 70er Jahre gerade auch bei reiferen Jahrgängen so gut punkten? Nicht ausschließlich, aber auch deshalb, weil hier in jungen Jahren ein Markenvertrauen bzw. eine entsprechende Begehrlichkeit aufgebaut wurde, an das man immer gerne erinnert wird, und sei es durch die identischen Ursprungsprodukte. Das soll kein Plädoyer für ein Retro im Marketing sein, zeigen doch zahlreiche andere Erfolgsbeispiele wie Nivea, das Konstanz und Konsistenz im Auftritt hier die entscheidenden Größen sind. Und da gilt es für Neueinsteiger und weniger erfolgreiche Player im Markt, dort anzusetzen. Bestehende Prägungen aufzubrechen und durch neue, mit angenehmen Erlebnissen verbundene neue Heuristiken, also das Leben vereinfachende Handlungsmuster, zu ersetzen, aus denen rasch eine Gewohnheit werden kann. Aber eben unter Verwendung, Analyse und mit dem tieferen Verständnis dieser Verhaltensmuster, die es nach meiner Überzeugung viel stärker zu beachten gilt, als das häufig der Fall ist. Z. B., indem Aspekte wie Wiederkaufsneigung, die Markenwahl bestätigende Attribute gezielt regelmäßig überprüft und ggf. in die Kommunikation mit dem Kunden stärker einfließen. Ganz gleich ob explizit oder implizit erhoben (beides ist hier wichtig).
Aus der Neuroökonomie hat mir dazu immer stark die Theorie der kortikalen Entlastung der seinerzeit in Münster lehrenden und forschenden Peter Kenning und Michael Deppe imponiert (Männer, die Kaffee kaufen sollen, und dies nur selten tun, wählen eine Ihnen bekannte Marke, weil sie anstrengungslos Bilder in Ihnen wachruft, die eng mit dem Produkt Kaffee verbunden sind. Hierbei ist nicht die Aktivierung einzelner Regionen das Spannende, sondern die Nicht-Aktivierung. Man spart mentale Energie und wählt das Bekannte, statt sich energieintensiv mit Neuem auseinanderzusetzen). Eine runde Sache, d. h. tieferes Verständnis wird bzw. resultiert aber erst dann daraus, wenn man die Theorien der kognitiven Verhaltensforschung eines Daniel Kahneman, Amos Tversky etc. für die Erklärung von Konsumentenverhalten mit heranzieht und für sich nutzbar macht.
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