Der bloggende Bestatter schrieb letztens, dass die meisten Fahrradfahrer, die bei ihm landen, durch Kopfverletzungen starben. Darüber entbrannte in den Kommentaren eine Diskussion über das grundsätzliche Für und Wider von Fahrradhelmen.
“Was gibt es da eigentlich zu diskutieren ?”, dachte ich zunächst bei mir.
Gegen den Fahrradhelm spricht, dass er ein wenig bescheuert aussieht und vielleicht etwas umständlich durch die Gegend zu tragen ist. Für den Fahrradhelm spricht, dass er vor schweren Kopfverletzungen schützt und daher im Zweifelsfall Leben und Gesundheit rettet. Dann ist das Ganze also eher eine Frage der persönlichen Bequemlichkeit bzw. Eitelkeit, oder?
Denkste! Einige Kommentatoren stilisierten ihr Recht auf Helmfreiheit zu einem Grundrecht. Nach dem Motto: Also wenn wir jetzt schon so anfangen, dann dürfen wir gar nichts mehr. Alles im Leben ist irgendwie gefährlich.
Natürlich ist das Leben an sich gefährlich, aber alles im Leben ist in unterschiedlichem Maß gefährlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich an einem Brotmesser lebensgefährlich verletzt, ist z.B. recht gering. Daher verbietet keiner Brotmesser. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass ein Fahrradfahrer von einem Autofahrer angefahren wird und dabei mit dem Kopf auf dem Auto/Bürgersteig/Straße aufschlägt, halte ich alleine deswegen für relativ hoch, weil ich selbst bereits mehrfach auf meinem Rad fast umgefahren worden wäre und weil meinem Mann nach einem leichten Unfall eine Platzwunde am Kopf genäht werden musste. Passend dazu las ich vorgestern in der Zeitung von zwei Unfällen mit Fahrradfahrern. Dreimal dürft Ihr jetzt raten, welche Verletzungen sie davontrugen. In beiden Fällen: Kopfverletzungen. Also, wenn das schon mir persönlich passiert und ich ab und dann davon lese, dann achte ich doch darauf und trage diesen verdammten Helm. Mag zwar bescheuert aussehen, aber mein Mann sah mit blutüberströmten Kopf noch viel bescheuerter aus.
Außerdem halte ich das bisschen Kunststoff auf meinem Kopf nicht für eine großartige Einschränkung meiner Grundrechte. Abgesehen davon habe ich noch nie von einem Recht auf Selbstverletzung gehört. Wir sagen schließlich auch nicht einem Selbstmörder, der auf dem Brückengeländer steht: Mach schon! Das ist Dein gutes Recht! Warum mahnen wir zudem allenthalben, dass gerade junge Menschen beim Sex ein Kondom benutzen sollten? Dass sie nicht zu schnell fahren und nicht zuviel Alkohol trinken sollten?
Die Debatte um die Sterbehilfe zeigt, wie schwierig das Thema “Selbstbestimmung über das eigene Leben” ist und dieses Argument hier in Zusammenhang mit einem Fahrradhelm heranzuziehen, ist einfach nur grotesk übertrieben. Im Übrigen werden diese Leute in letzter Konsequenz, wenn sie denn wirklich in einen Unfall verwickelt werden sollten, wohl kaum an einer Kopfverletzung sterben wollen. Sie werden zu Recht darauf bestehen, dass die Allgemeinheit alles tut, um ihr Leben zu retten und die Gesundheit zu erhalten.
Im Laufe der Diskussion kam außerdem ein anderes Argument der Fahrradhelm-Hasser: Die Wirksamkeit von Fahrradhelmen sei wissenschaftlich nicht erwiesen. Oder Studien aus Australien haben erwiesen…
Super! Wissenschaft als Totschlagargument alá “die Wissenschaft hat erwiesen, dass..”
Merke! Ohne Angaben von Quellen ist diese Behauptung wertlos. Außerdem kommt es auf die Art der Quelle an. Leider werden oft Studien in den Medien völlig falsch wiedergegeben. Bei kontroversen Themen lohnt es sich daher auf die Originalstudie zurückzugreifen und auch mehrere Studien zu vergleichen.
Aber ich wäre nicht Wissenschaftler, wenn ich diese Behauptung nicht überprüfen würde.
Wir verwenden Google Scholar und geben in die Suchmaske ein: bicycle und helmet und erhalten diese Seite.
Komisch, ich sehe auf den ersten Blick einige Studien, die sich damit beschäftigen und alle Studien auf der ersten Seite kommen zu dem selben Schluss: Fahrradhelme vermeiden Kopfverletzungen.
So weit, so klar. Auf der zweiten Seite der Suchergebnisse bin ich dann aber über eine Studie gestolpert, die mich dann sehr stutzig machte (1):
Ich vermute mal, das ist genau die australische Studie, auf die sich einer der Kommentatoren bezog. Hier hat die Autorin die Folgen der landesweiten Helmpflicht für Fahrradfahrer in Australien bewertet.
Auch sie bestreitet nicht, dass bei einem Unfall unbehelmte Fahrradfahrer gegenüber denen mit Fahrradhelmen im Nachteil sind. Wenn es kracht, dann ist es besser einen Helm aufzuhaben. Insofern ist die Behauptung, dass Fahrradhelme keinen lebensrettenden Einfluss haben, schlicht und ergreifend nicht wahr. Auch diese Studie belegt nicht das Gegenteil.
Aber können wir davon ausgehen, dass Verkehrsteilnehmer, die keinen Helm tragen, in allen Belangen vergleichbar sind mit jenen die einen tragen? Und was passiert wirklich, wenn die Helmpflicht eingeführt wird?
Dummerweise ist bekannt, dass die Menschen im Allgemeinen sich alles andere als vernünftig verhalten. Sie neigen beispielsweise dazu, Sicherheitsmaßnahmen überzukompensieren. So fühlen sich Autofahrer durch Sicherheitsgurte und Airbags so gut geschützt, dass sie unverhältnismäßig riskant fahren und dadurch mehr Unfälle provozieren, als wenn sie ungesichert im Auto säßen. Darüber hatte ich schon mal was geschrieben. Im Endeffekt retten Sicherheitsgurte und Airbags aber immer noch mehr Leben – trotz dieses die eigene Sicherheit sabotierende Verhalten. Dennoch muss man jede Maßnahme daraufhin abklopfen.
Die australische Studie kommt zum Ergebnis, dass nach Einführung der Helmpflicht in den Bezirken New South Wales, Victoria und Melbourne 75% aller Fahrradfahrer einen Helm trugen und der Anteil der Kopfverletzungen im ersten Jahr um 13% abnahm. Aber es ist schwierig zu beurteilen, ob wirklich diese Maßnahme dafür verantwortlich war. Denn gleichzeitig wurden schärfere Maßnahmen wegen überhöhter Geschwindigkeit und Alkohol am Steuer eingeführt, die wiederum insgesamt zu einer Verminderung schwerer Verletzungen z.B. auch bei Fußgängern führten. Einen Einfluss durch den Helm ist nach Meinung der Autorin eigentlich nicht erkennbar.
Allerdings hatte die Helmpflicht einen ganz anderen deutlich sichtbaren und unerwarteten Effekt und jetzt haltet Euch fest: Nach der Einführung hat die Anzahl der Fahrradfahrer an sich deutlich abgenommen. In Victoria z.B. fuhren im ersten Jahr 50% weniger Kinder im Alter zwischen 12 und 17 Rad als vorher. Bei den jüngeren Kindern veränderten sich die Zahlen nicht viel. Bei den Erwachsenen betrug der Rückgang 30 %.
Mit anderen Worten, bevor die Leute sich für 10-30 € einen Helm kauften und den anzogen, um sich im Fall der Fälle zu schützen, verweigerten viele lieber ganz das Fahrradfahren. Da deshalb weniger Fahrräder unterwegs sind, kann es sein, dass viele Autofahrer “vergessen” auf diese spezielle Gruppe vom Verkehrsteilnehmern zu achten, wodurch erst recht Unfälle provoziert werden.
Außerdem hat Fahrradfahren trotz aller Risiken immer noch viele Vorteile: Mehr Bewegung fördert die Fitness und senkt die Gesundheitskosten, außerdem werden Abgase und damit Umweltbelastungen eingespart. In den ersten Jahren nach der Einführung der Helmpflicht waren also die Auswirkungen insgesamt eher schädlich für den Staat.
Nach dem Lesen dieser Studie kann man eigentlich nur weinen, oder? Wie bescheuert sind die Menschen eigentlich?
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