Immer wieder wird Wissenschaft vorgeworfen, sie sei auch nur ein Glaubenssystem. Ach wirklich? Wo denn?
Wissenschaft ist zunächst mal zu einem gewissen Grade eine Dienstleistung. Der Computer, der Fotoapparat, das Navigationssystem, das Penicillin, die tollen Bilder vom Hubble-Space-Teleskop, die Wettervorhersagen…Das alles beruht auf Wissen, dass kluge Menschen im Laufe der letzten Jahrhunderte geschaffen haben. Aber das ist nur die halbe Geschichte, denn kluge Köpfe alleine reichen nicht aus.
Über die Jahrhunderte hinweg galten z.B. die Lehren der beiden klugen Köpfe Ptolemäus und Aristoteles als unantastbar und als der Weisheit letzter Schluss. Es waren Autoritäten, die man nicht in Frage zu stellen hatte, genauso wie man die Gesellschaftsordnung nicht in Frage zu stellen hatte. Die Bücher zweier Männer, die nur aufgrund ihrer eigenen Meinung und Erfahrung sich was über den Zustand der Welt zusammengereimt hatten, galt als “Wissen”. Aristoteles behauptete z.B. in seinen Traktaten, dass schwere Körper schneller fallen müssen als leichte Körper. Das erscheint auch vielen Menschen heute noch als logisch und plausibel und man sieht das doch an der Feder und dem Stein. Wahrer wurde diese Behauptung aber weder dadurch, dass sie plausibel klingt, noch dadurch dass Gelehrte sie immer und immer wieder über die Jahrhunderte wiederholten. Hier zeigt sich bereits, wie schwierig das mit der Bewertung der Argumente sein kann. Aristoteles hat sicherlich auch lange über seinen Ideen gebrütet. Dennoch kam in einigen Fällen Müll raus, der jahrhundertelang nicht als solcher erkannt wurde, weil er so plausibel und logisch und wahr erschien. Wo war der so genannte gesunde Menschenverstand bis etwa 1600? Wer von den Lesern traut sich aus dem Stegreif zu, diese Behauptung zu entkräften? Man hat zwar gelernt, dass es völlig egal ist, wie schwer eine Eisenkugel ist und sie immer gleich schnell fällt, aber wer kann das schon vernünftig begründen?
Und dann? Dann kamen z.B. Galileo und Kepler. Der eine richtete sein Teleskop zum Jupiter und sah, dass er von Monden umkreist wurde und dass demnach ganz offensichtlich nicht alles um die Erde kreisen kann. Zudem wies er Aristoteles einen Logikfehler nach, den er bei der Beschreibung fallender Körper gemacht hatte, und er machte systematische Experimente mit sich bewegenden und fallenden Körpern verschiedener Größe, Form und Schwere, anstatt sich einfach nur auf eine Wiese zu setzen und zu schauen, was so passiert. Er hat sich nicht auf seine Meinung und auf seine Erfahrung berufen und ganz sicherlich hat er keine Umfragen in der Bevölkerung durchgeführt – wie die wohl ausgegangen wäre, können wir uns lebhaft vorstellen.
Kepler erbte von Tycho Brahe die über Jahrzehnte mittels Teleskopen beobachteten und aufgezeichneten Positionen der Planeten am Sternenhimmel und versuchte mittels der Mathematik, einen Sinn darin zu entdecken. Kepler brauchte dafür fast 20 Jahre und obschon er anscheinend bedingungslos an das ptolämische Weltbild glaubte, gelangte er zu den richtigen Schlüssen, weil er merkte, dass seine Berechnungen eher einen Sinn ergaben, wenn er das heliozentrische Weltbild als Grundlage verwendete. Er rechtfertigte das sich selbst gegenüber als reines Rechenmodell, was wieder zeigt, dass selbst sehr kluge Menschen zu erstaunlichen Fehlleistungen fähig sind, wenn sie ihre Meinung partout nicht aufgeben wollen. Inzwischen wissen wir, dass das heliozentrische Weltbild nicht nur ein Rechenmodell, sondern wahr ist. Oder zumindest der Wahrheit sehr viel näher kommt, als das ptolemäische.
Was war passiert?
Kepler und Galilei und auch Newton entwickelten eine neue Methode, um die Welt zu ergründen. Mit dem Anspruch herauszufinden, wie sie ist – und nicht wie sie zu sein hat. Diese Methode verlangt zum einen für jede einzelne Hypothese eine in sich konsistente, klare und logische Beschreibung. Deswegen ist und bleibt spätestens seit Newton und Kepler die Mathematik die Sprache der Wissenschaft, weil sie wesentlich eindeutiger und logischer ist als unsere Sprache, mit der sich prächtig um eine Problem drumherum schwafeln lässt und es noch nicht mal klar ist, ob zwei verschiedene Leute auch wirklich das gleiche meinen, wenn sie dasselbe Wort benutzen.
Zum anderen wird für jede Hypothese Belege verlangt; Experimente und Tests, welchen sich diese immer und immer wieder zu stellen hat. Erst dann wird sie zu einer echten wissenschaftlichen Theorie geadelt. (1)
Außerdem ist es völlig unerheblich, von wem die Hypothesen stammen. Natürlich hören Menschen zunächst mal einem Nobelpreisträger eher zu als einem kleinen Patentbeamten aus der Schweiz. Aber wenn das, was dieser Mann sagt, Hand und Fuß hat und sich zudem in verschiedenen Experimenten bestätigt, dann setzt sich das auch durch. Nicht weil derjenige, der diese Theorie ausgearbeitet hat, einen besonders hohen sozialen Status hatte, sondern weil er einfach Recht behalten hat. Gerade in der Astronomie werden bis heute Beobachtungen und Daten von Hobby-Astronomen in der Forschung verwendet. Der Nachthimmel ist groß, das Geld ist knapp; da wird jede Form von Hilfe gerne angenommen.
Gleichzeitig ist Wissenschaft oft auch kontrovers und soll es auch sein. Es gibt ständig einen Wettstreit der Ideen und Experimente. Der eine entwickelt eine Hypothese, der nächste verbessert sie oder setzte eine ganz andere Hypothese dagegen. Der dritte überprüft beide Hypothesen experimentell und bestätigt oder verwirft sie. Daraufhin tritt der nächste auf den Plan und wiederholt oder erweitert die Experimente von Wissenschaftler Nummer drei, um zu überprüfen, dass dessen Ergebnisse nicht falsch sind oder einfach nur ein Zufallsprodukt. Dieser Diskurs wird in Form von wissenschaftlichen Fachaufsätzen und Studien geführt. Das ist heutzutage nicht viel anders als zu Zeiten Keplers, Galileis und Newtons. Sie haben ihre Erkenntnisse, ihre Daten, ihre Methoden aufgeschrieben, drucken lassen und die Gelehrten ihrer Zeit setzten sich damit auseinander. Diese schrieben ihrerseits wieder Traktate und Aufsätze und machten Experimente. Die wirklich guten Fachaufsätze überlebten, die schlechten und die, die sich als falsch erwiesen, gerieten in Vergessenheit.
Wenn man sich willkürlich Studien einer laufenden wissenschaftlichen Diskussion raussucht, dann könnte man tatsächlich als Laie den Eindruck bekommen, dass Wissenschaft beliebig ist. Aber das ist ein ganz fundamentales Missverständnis. Denn diese Offenheit gegenüber neuen Ideen, bis neue Erkenntnisse gewonnen und Methoden ersonnen werden, um zu überprüfen, welche dieser Aussagen tatsächlich wahr ist, das ist eine der großen Stärken der Wissenschaft. Das alles, was es zu dem Thema zu untersuchen gibt, tatsächlich von irgendjemandem diskutiert und auch untersucht wird.
Das ist kein einfacher Prozess. Wie leicht kann man selbst mit auf den ersten Blick logischen und plausiblen Annahmen in die Irre gehen (siehe Aristoteles und der freie Fall) und wieviel Zeit braucht der Nachweis mit Experimenten und die Datenauswertung. Insbesondere weil ein Experiment in der Regel nicht ausreicht. In der Wissenschaft gilt: Einmal ist keinmal. Daher kann der Prozess des wissenschaftlichen Diskurses Jahrzehnte dauern, bis sich irgendwann der Sieger mit den besseren Argumenten und den besseren Daten herauskristallisiert. Wenn auf 20 Studien eine Gegenstudie kommt, dann ist das schon ein recht gutes Zeichen dafür, wer wohl auf lange Sicht Recht behalten wird. Insbesondere wenn die wenigen Gegenstudien sehr schwache Argumente bringen. (2) Es ist jedenfalls ein besseres Indiz, als ein Wikipedia-Artikel oder eine Befragung von 100 Radfahrern, die meinen deswegen eine Ahnung von der Belastbarkeit von Radhelmen zu haben, weil sie Rad fahren und bestenfalls mal einen Helm in der Hand und auf dem Kopf hatten. Genauso wenig ist ein Autofahrer in der Lage, sein Auto zu reparieren, nur weil er eins hat.
Selbst wenn sich einige Studien und Facharbeiten und Experimente als falsch erwiesen haben, sind diese immer noch wertvoll. Man kann daraus lernen, wie man es nicht macht und die Herausforderung an sich schärft das Profil der wissenschaftlichen Aussage. Im Laufe der Auseinandersetzung fällt alles Überflüssige und Falsche weg. Das, was dann bleibt, ist echtes Wissen, das unter Umständen zu einer neuen Erfindung führt. Ohne die Arbeiten von Heinrich Hertz wüssten wir herzlich wenig über elektromagnetische Wellen, die Radio- und Fernsehsendungen übertragen.
Klare eindeutige, vernünftige Formulierungen und Argumente und nachvollziehbare und dokumentierte Tests und Experimente; das sind die Grundlagen der Wissenschaft und nichts anderes. Subjektive Meinungen und Erfahrungen, die man gemacht zu haben glaubt, haben hier rein gar nichts zu suchen. (3) Wer diese Sichtweise vertritt, macht einen Rückschritt hin zur Sichtweise des Aristoteles, der es noch nicht mal schaffte, den gleichzeitigen Fall eines schweren und eines leichten Steines richtig zu beschreiben. Für diese Sicht der Dinge gibt es heutzutage nur einen Platz: Den Mülleimer der Geschichte und da sollte er auch bleiben.
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(1) Ja, eine Theorie ist tatsächlich in der Sprache der Wissenschaftler genau das Gegenteil einer unbewiesenen Spekulation, auch wenn “Theorie” in der Alltagssprache als Synonym für letzteres gebraucht wird. Und schon reden Wissenschaftler und Laien aneinander vorbei, weil sie mit dem Wort Theorie unterschiedliche Dinge meinen.
(2) Genau da haben Journalisten ihre Probleme. Sie suchen immer nach dem Besonderen und da sind natürlich Studien und Thesen von Forschern, die in der Minderheit sind und besonders provokant klingen, sehr attraktiv. So wird über eine These, die langsam aber sicher ins Hintertreffen gerät, weil zu wenig für sie und vielzuviel gegen sie spricht, lang und breit berichtet und verschwiegen, dass dieser einzelnen Arbeit 99 weitere gegenüber stehen, welche genau das Gegenteil propagieren. Oft aus gutem Grund.
Man könnte jetzt entgegen, dass die Mehrheit nicht immer Recht hat. Aber darauf antworte ich:
Ja, das stimmt. Aber je nachdem mit welcher Mehrheit man arbeitet, kann man bereits eine erste vorläufige Schlussfolgerung ziehen, die meist richtig sein wird:
Würdet Ihr, wenn Ihr einen Defekt am Wagen habt, willkürlich 100 Leute auf der Straße anhalten und die nach ihrer Meinung fragen? Oder würdet Ihr lieber dem Urteil von 100 Mechanikern vertrauen?
Denn seht Ihr, schon aus Zeitgründen werde ich hier nicht jeden wissenschaftlichen Sachverhalt bis ins letzte Detail verfolgen und verteidigen oder gar testen können, insbesondere wenn es nicht mein Fachgebiet betrifft. Deswegen muss ich irgendwann, genau wie jeder Mensch, auf die Expertenmeinung vertrauen und darauf, dass soviel Wettbewerb unter den Forschern herrscht, dass falsche Aussagen und Daten früher oder später auffliegen. Vertrauen hab ich gesagt! Nicht blinder Glaube oder gar Gehorsam.
Mir genügt es z.B., dass viel erfahrenere und technisch versiertere Leute als ich beim TÜV die Wirksamkeit von Radhelmen überprüfen. Wer meint, dass die Mist bauen: Bitte, das ist Eure Chance reich zu werden. Verklagt den TÜV und weist nach, dass TÜV-Mitarbeiter jahrelang fälschlicherweise den Leuten eingeredet haben, die Helme würden vor Kopfverletzungen schützen. Allerdings wage ich zu bezweifeln, dass irgendein Richter einen Wikipedia-Artikel als Begründung für die Klage akzeptiert. Aber bitte! Ihr könnt es gerne versuchen. Wenn Ihr Recht habt, werdet Ihr damit in die Geschichte eingehen.
(3) Über die Fehlbarkeit der menschlichen Erinnerungen gibt es ganze Regale voller Literatur. Z. B. möchte ich in diesem Zusammenhang auf diesen ganz hervorragenden Text von Lars Fischer verweisen. Das Gehirn ist kein Datenspeicher.
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