oder der Versuch, Unwissenheit zur Tugend zur erklären.
Derzeit wird gerade in der wissenschaftliche Blogosphäre mal wieder intensiv das Thema “Wissenschaftsphilosophie” diskutiert. Kamenin von “Begrenzte Wissenschaften” hat gar eine ganze Serie dazu geschrieben, weil er ganz richtig erkannt hat, dass damit auch sehr viel Schindluder betrieben wird.
Gerade wenn es um kontrovers diskutierte wissenschaftliche Themen geht: Sei es Klimawandel, das neue LHC-Experiment am CERN, Evolutionstheorie oder gar Fahrradhelme (1) dann kommt zwangsläufig irgendwann der Punkt, an dem den Wissenschaftsgegnern und Anti-Wissenschaftlern die Argumente ausgehen. Ist ja vollkommen klar. Denn schließlich ist es für jeden halbwegs kritischen Geist ersichtlich, dass diese Leute mit Meinungen in die Diskussion gehen, die bestenfalls auf gesundem Halbwissen beruhen oder dem sogenannten “gesunden Menschenverstand”, der aber dummerweise bei vielen naturwissenschaftlichen Fragen kläglich versagt. Wer kann, bitte schön, anhand des gesunden Menschenverstandes begründen, warum sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt? Sieht doch schließlich so aus!
Es ist natürlich gegen Unwissenheit an sich zunächst nichts auszusetzen. Was ich allerdings nicht leiden kann, sind Leute, die ihre Unwissenheit zur Tugend erheben. Gerade diese drohen allerdings wissenschaftliche, kontrovers diskutierte Themen zu vereinnahmen. Sie haben sich ihre Meinung gebildet, die oft auf grotesk falschen oder falsch verstandenen und lückenhaften Annahmen beruht, und sind gleichzeitig nicht in der Lage oder willens diese Meinung mit der Realität abzugleichen. Man kann den Leuten alles mögliche an Wissen an den Kopf werfen, es wird einfach nicht angenommen. Stattdessen wird versucht, den Diskussionsgegner durch rhetorische Kniffe in die Knie zu zwingen. Oft sieht man eine eigentümliche Doppelmoral: Während von der Gegenseite vollkommen ausgereifte Erklärungen ohne Lücken verlangt werden und diese Leute nicht bereit sind, auch nur ein kleines bisschen anzuerkennen, dass genau diese Erklärungen vielfach geprüft wurden und sich bewährt haben, werden auf der anderen Seite Einsichten favorisiert, die so große Löcher in der Logik aufweisen, dass ganze Planeten hindurch passen würden. Es werden einfach nur die “Autoriäten” und Erklärungen akzeptiert oder aus dem Zusammenhang gerissen, welche die persönliche Meinung angeblich stützen. Der überwältigende Rest wird einfach ignoriert. Oder man verlangt immer und immer ausschweifendere Erklärungen, weil man angeblich dazulernen möchte. Wollen sie nicht. Es ist reine Ermüdungsstrategie. Denn letztendlich ist es unmöglich, das gesammelte Wissen von Jahrzehnten mal eben in einen Kommentar eines Blogs zusammenzupressen. Für so etwas gibt es ein naturwissenschaftliches Studium. Und der Verweis auf gute Lehrbücher wird ignoriert oder gar als Zumutung empfunden. Es ist solchen Leuten einfach nicht zu vermitteln, dass echtes Wissen Arbeit bedeutet und dass man den Leuten diesen Erkenntnisprozess auch nicht abnehmen kann. Man kann ihnen nur den Weg weisen.
Selbst wenn es gelingt, alle Argumente und die Autoritäten in der Luft zu zerfetzen und den Anti-Wissenschaftler bei grob irreführenden und falschen Aussagen ertappt, die er oft unzulässigerweise als *Fakt* verkauft, dann wird als allerletztes Mittel je nach Bildungsgrad erwidert: “Besserwisser”, “Ihr wisst auch nicht alles!” oder eben auf die philosophisch begründete Begrenzheit des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses nach Popper verwiesen. Bedeutet letztendlich alles dasselbe: “Ich hab zwar keine Ahnung, aber Ihr wisst auch nichts, deswegen hab ich Recht oder ist zumindest meine Sichtweise Deiner ebenbürtig. Ätsch!”
Popper würde sich vermutlich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, dass seine Arbeiten zur Verteidigung von Unwissenheit und Ignoranz verwendet werden. Natürlich ist diese Argumentation rein logisch gesehen ein Armutszeugnis. Da wird eine Position der Unwissenheit auf die gleiche Stufe oder gar über die Position des Mehr-Wissenden gesetzt. Außerdem ist dieser Vorwurf zutiefst unwahr.
Denn gerade Wissenschaftler behaupten niemals, dass sie alles wissen. Wer meine Beiträge liest, wird öfter auf Aussagen stoßen wie: “vermutlich”, “vielleicht, “anscheinend”,”lässt sich wohl nicht beweisen”, “es wird spekuliert” etc.. Würde so jemand argumentieren, der den Anspruch erhebt, alles zu wissen? Wohl kaum. Der Vorwurf “Ihr könnt nicht alles wissen” ist ein typisches Strohmann-Argument. Er geht vollkommen am eigentlichen Thema vorbei und dient lediglich dazu, das Gegenüber zu diskreditieren.
Denn entscheidend ist, dass z.B. jemand, der jahrelang Teilchenphysik studiert und seine Diplomarbeit auf dem Gebiet gemacht hat, normalerweise mehr über Elementarteilchen weiß, als ein interessierter Laie, der lediglich obskure Webseiten oder ein reisserisches populärwissenschaftliches Buch als Quelle seines Wissens angibt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Und das Argument, dass man ja wohl noch Fragen stellen darf, zieht auch nur dann, wenn es sich um ehrliche Fragen handelt – um Fragen, die darauf abzielen, die eigene Unwissenheit zu verringern. Fragen, welche die Antwort vorwegnehmen, gehören nicht dazu. Fragen, die von vornherein unbeantwortbar sind, gehören auch in die Kategorie “grobe Irreführung”.
Achtet mal darauf, wenn Ihr auf eine lebhafte Diskussion auf Wissenschaftsblogs stosst oder auf wissenschaftlich anmutende Seiten, die Euch seltsam vorkommen. Selbst wenn Ihr den Argumenten nicht immer folgen könnt, so merkt man auch als Laie recht schnell, wenn jemand Strohmänner und Autoritäten bemüht, weil ihm die sachlichen Argumente ausgehen. Daran sollt Ihr sie erkennen, die notorischen Nörgler, die an einer etablierten wissenschaftlichen Disziplin kein gutes Haar lassen, die Esoteriker und die Anti-Wissenschaftler, die sich für die neuen Einsteins halten.
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(1) Wer die Diskussionsrunde zu dem Thema hier nicht mitgekommen hat, soll froh sein. Oder kann auf meiner Seite nach “Radhelm” suchen und sich auf das Schlimmste gefasst machen.
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