Oder wie man ganz legal neue Rekorde produziert: Man ändert einfach den Schwimmstil bzw. ändert das Regelwerk dazu.
Hmm, ist doch komisch, dass gerade Schwimmen auf den Wissenschaftsblogs so im Fokus steht. Lars Fischer vom Fischblog analysiert die Rekorde über 400 Meter Lagen und Marc Scheloske wirft im ScienceBlogs Neurons die Frage auf: Gab es hier eine Neuentdeckung, was die Biomechanik des Schwimmsports angeht?
Die Antwort ist ganz klar: Jepp, die gab es und zwar nicht zu knapp.
In den vergangenen Jahrzehnten sind sogar mehrfach die Regeln des Schwimmens verändert worden, um biomechanischen Neuerungen im Schwimmsport gerecht zu werden. Zuletzt vor zwei Jahren.
Gerade Schwimmen ist eine Fortbewegungsart, die ganz stark von der angewendeten Schwimmtechnik abhängt. Wobei ich jetzt hier die einstudierten Bewegungsabläufe meine und nicht die technischen Hilfsmittel wie Schwimmanzüge, Badekappen oder Schwimmbrillen, deren Bedeutung meiner Meinung nach bei weitem überschätzt wird.
Seit um 1900 herum die ersten Schwimmvereine gegründet wurden, hat sich der Schwimmstil extrem weiterentwickelt. Altdeutsch-Rücken werden einige vielleicht noch von ihren Eltern und Großeltern kennen. Aber kennt jemand noch Seiten- oder gar Spanischschwimmen?
Das ist auch eigentlich kein Wunder. Der Mensch ist körperlich von seiner Entwicklung her, eher auf ein Leben in der Savanne eingestellt. Eine effiziente Bewegung im Wasser war da nicht gefragt. Dementsprechend wurde in den letzten 100 Jahren ganz schön herumexperimentiert, um den “besten” Schwimmstil zu finden.
Herauskristalliert haben sich bis heute vier Schwimmarten:
- Rückenschwimmen mit Wechselarmzügen und -beinschlägen.
- Der Kraulstil, der bei internationalen Wettkämpfen immer im Freistil geschwommen wird, auch wenn per definitionem jeder Schwimmer bei Freistil eigentlich schwimmen könnte, wie/sie er wollte. (1) Aber es ist der schnellste Schwimmstil, also wären die Leute schön blöd, was anderes zu nehmen.
- Schmetterlingsschwimmen, das vor nicht allzu langer Zeit im deutschsprachigen Raum Delfin hieß. Ich kann mich noch daran erinnern, dass beim Schmetterlingsschwimmen der
WechselbeinschlagBrustbeinschlag verwendet wurde. Das würde aber heute zur Disqualifikation führen. Erlaubt ist nur noch die gleichzeitige Bewegung der Beine nach oben und nach unten. Der Delfinbeinkick. Das ist zwar anstrengender als der Wechselbeinschlag, bringt aber einen deutlichen Gewinn bei der Geschwindigkeit. - Brustschwimmen, das in seiner Urform von einem preußischem Soldaten erfunden wurde und vom Bewegungsablauf als anspruchsvollster Schwimmstil angesehen wird.
So weit so gut. Im Groben stehen die Schwimmrichtungen seit etwa 50 Jahren, aber an den Details der Schwimmstile wird bis heute geschraubt und jede Neuerung bringt Zehntel Sekunden Verbesserungen in den Rekorden. Daran ist unter anderem die Sporthochschule Köln beteiligt mit speziellen Becken, Computersimulationen usw. usf. Alles um noch ein bisschen mehr Auftrieb zu erzeugen, den Wasserwiderstand noch weiter zu verringern und die Effizienz der Fortbewegung zu optimieren.
Ein Beispiel für eine solche Neuerung vor ein paar Jahrzehnten sollte auch dem Freizeitschwimmer bekannt sein: Beim Brust- und auch beim Schmetterlingsschwimmen wird geraten, die Finger beim Armzug ein wenig auseinander zu spreizen. Dabei entstehen Verwirbelungen zwischen den Fingern, die man als zusätzliche Vortriebsfläche verwenden kann.
Achtet zudem in den nächsten Tagen darauf, wie die Schwimmer unter Wasser die Hände zur Hüfte zurückführen. Da wird die Hand nicht einfach gerade durchs Wasser gezogen. Die Hände beschreiben bei der Rückführung eine Schlängelbewegung nach rechts und nach links, um immer “frisches Wasser” nach hinten zu stoßen und nicht bloß bereits bewegtes Wasser, das sowieso keinen zusätzlichen Vortrieb mehr bringt, zur Seite zur schieben. Diese Technik nennt sich Paddeln.
Achtet beim Brustschwimmen auf die Köpfe der Schwimmer! Bei jedem Schwimmzyklus ist der Kopf zwischendurch unter Wasser. Bis ins Jahr 1986 war das ausdrücklich verboten. Wenn der Kopf aber unter Wasser ist, ist der Widerstand um einiges geringer. Also wurden die Regeln verändert, um genau diesen Umstand auszunutzen.
Neben dem Schwimmstil wurde außerdem in den letzten Jahrzehnten einiges an der Wendetechnik gefeilt. Mein Mann kann sich noch daran erinnern, dass während seiner inzwischen 25jährigen Tätigkeit im Schwimmsport die Rückenwende mehrfach reformiert wurde. So musste man noch in den 80er Jahren (2) bei jeder Wende auch in der Rückenlage anschlagen. Dafür gab es die Kipp- bzw. die Tellerwende.
Seit einigen Jahren wird im Leistungssport nur noch die “kontinuierliche Rückenwende” durchgeführt, bei der es erlaubt ist, sich zu Einleitung der Wende in Brustlage zu drehen und seit etwa vier Jahren dabei sogar Beinschläge auszuführen. Dadurch kann die Wende zügiger durchgeführt werden und die Sekundenbruchteile, die man bei der Wende spart, bringen im Gesamtergebnis natürlich wiederum wertvolle Sekundenbruchteile.
So und jetzt komme ich zu einer weiteren biomechanischen Weiterentwicklung: Die sogenannte Undulationstechnik. Eine schlangenförmige Auf- und Abbewegung des gesamten Körpers während des Brust- und des Schmetterlingsschwimmens, die man den Delfinen und Walen abgeschaut hat.
Die Wellenbewegung des Körpers verringert den Wasserwiderstand, bei der Aufwärtsbewegung hebt es den Körper aus dem Wasser heraus und dabei können die Arme über Wasser vorgeführt werden. Man umgeht wiederum den Wasserwiderstand. Bei der Undulationstechnik ist das intrazyklische Geschwindigkeitstief geringer. Das biomechanische Prinzip der minimalen Geschwindigkeitsschwankung fordert jedoch für die Erreichung einer höheren Durchschnittsgeschwindigkeit die Minimierung der Geschwindigkeitsschwankungen. (Quelle: Auszug aus dem Sport-Info 1/98, von den Sport-Seiten des Oberschulamts Karlsruhe.)
Mit der Undulationstechnik minimiert man den Geschwindigkeitsabfall zwischen den Zyklen und schafft es so, eine höhere Durchschnittsgeschwindigkeit zu erreichen als bei der alten Gleittechnik. Höhere Durchschnittsgeschwindigkeit bedeutet natürlich bessere Zeiten! Nachteil: Diese Schwimmtechnik ist extrem anstrengend und schon auf 200 Metern kaum durchgängig durchzuhalten. Dennoch hat sie sich im Leistungssport durchgesetzt, so dass im Jahr 2006 (rechtzeitig für Olympia 2008) die Regeln für das Brustschwimmen erneut angepasst wurden. Um Undulieren zu können ist natürlich eine gewisse Auf- und Abbewegung der Beine erforderlich – alleine zur Lagekontrolle. Gerade bei der Start- und bei der Wendephase ist daher ein sogenannter “passiver Delfinbeinschlag” nicht zu vermeiden. Der ist aber beim Brustschwimmen eigentlich nicht erlaubt. Die Lösung der Schwimmverbände und das Geschenk an die Leistungsschwimmer bestand darin, einen Delfinbeinkick während des Start- und Wendezyklusses ausdrücklich zu erlauben.
Und jetzt ratet mal, wie schnell aus einem passivem Delfinbeinkick ein aktiver wurde?
Ein geschenkter kraftvoller Beinschlag bei jeder Startphase und Wende? Der noch mal so richtig Geschwindigkeit in die Sache bringt? Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass sich das Leistungsschwimmer entgehen lassen würden!
Tatsache ist: Würde man morgen bei den nächsten olympischen Schwimmwettbewerben das Regelwerk aus dem Jahre 1980 anwenden, blieben nur noch die Freistilschwimmer übrig. Alle anderen würden disqualifiziert – ohne Ausnahme., alle Schwimmer würden disqualifiziert – ohne Ausnahme. (Siehe Nachtrag.)
Damit beantworte ich direkt die Frage von Marc Scheloske: Sind Mark Spitz, Michael Groß und die Stars der Vergangenheit alle “falsch” geschwommen?
Ja!
Der Schwimmstil, den Mark Spitz und Michael Groß verwendeten, unterscheidet sich deutlich von dem, was heute Michael Phelps schwimmt und deswegen sind auch die Rekorde nicht wirklich miteinander vergleichbar, weil die Bewegungsabläufe im Grunde genommen inzwischen ganz andere sind.
Sorry, Jungs! 😉
Nachtrag:
Mir ist heute aufgefallen. Pustekuchen! Auch die Freistilschwimmer würden nach dem Reglement aus dem Jahr 1980 disqualifiziert. Der Startsprung hat sich ja inzwischen verändert. Die Schwimmer stehen heutzutage in Schrittstellung bereit und umklammern mit den Händen den Block, um den Körper unter Spannung zu halten. Dabei ist es sogar erlaubt, mit den Zehen den Block am Rand zu umklammern. Das war früher ausdrücklich verboten.
Ganz klar, das was ich hier aufschreibe, sind nur ein paar Highlights, die ich rausgegriffen habe, um die technische Weiterentwicklung des Schwimmsportes zu illustrieren, die natürlich auch mit anderen Trainingsmethoden einhergeht. Von vielen brandneuen Änderungen habe ich wahrscheinlich nur noch nichts gehört, weil ich im Breitensport tätig bin.
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(1) Bis auf ein paar kleine Einschränkungen. Völlig untergetaucht geht z.B. nicht (mehr) und bei den Lagen darf im Freistilteil weder Brust, Rücken noch Schmetterling verwendet werden.
(2) Und ich meine sogar bis in die 90er wäre das Pflicht gewesen. Selbst ich, die jetzt seit gerade einmal zehn Jahren Kampfrichterin bin, hab inzwischen soviele Regelveränderungen miterlebt, dass ich schon mal den Überblick verliere, was, wann in meiner Zeit geändert wurde.
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