Oder warum zeigt diese blöde Waage schon wieder viel zu viel an đ
Seit die Forscher zu Beginn des 20. Jahrhunderts anfingen, in die Tiefen des Seins einzutauchen, in das, was uns im Innersten zusammenhĂ€lt, wurden sie immer wieder ĂŒberrascht.
Als Rutherford mit Alpha-Teilchen eine hauchdĂŒnne Goldfolie beschoss, war vor allem eins ĂŒberraschend. In vielen FĂ€llen flogen die Teilchen unbeeindruckt einfach durch die Folie durch, so als ob da gar nichts zwischen Schirm und Strahlenkanone wĂ€re. Unsere Materie besteht vor allem aus Nichts.
Aber es gab noch viel mehr Ăberraschungen. Schnell stellte sich heraus, dass das Atom trotz seines Namens – auf altgriechisch heiĂt atomos unteilbare Materie – sehr wohl teilbar ist. Teilchenbeschleuniger erlaubten es, Atome zu zertrĂŒmmern und sogar neue Teilchen aus Energie zu Erzeugung. E=mc2 nicht wahr? Materie ist im Grunde nichts anderes als konzentrierte Energie.
Dann ging es Schlag auf Schlag: Elektronen, Neutronen, Protonen und Neutronen wurden als Einzelteile der Atome identifiziert. So weit so gut, aber dann stellte sich heraus, dass je tiefer man in die Materie eintauchte, immer mehr Teilchen auftauchten und zwar mehr als eigentlich gebraucht wurden, um die Materie um uns herum zu erklÀren. Zum Elektron gesellte sich auf einmal ein schwerer Zwillingsbruder. Mit allen Eigenschaften des Elektrons aber mit einer 200fach höheren Masse und noch dazu extrem kurzlebig: Das Myon. Dann gibt es das ganze noch einmal gespiegelt. Zu jedem Teilchen gibt es ein Anti-Teilchen. Sieht genauso aus, ist genauso schwer, aber die Ladung ist genau verkehrt herum.
“Wer hat das alles bestellt!” sollen Physiker frustriert ausgerufen haben, als sie dieser ungewollten Bescherung Gewahr wurden.
Es war paradox. Anstatt dass die Welt einfacher wurde, je weiter man ins Innere blickte, wurde sie immer komplizierter. Und es stellte sich die Frage nach dem “Warum”. Warum bringt die Natur Teilchen hervor, die viel zu kurz leben, um damit etwas “VernĂŒnftiges” anzustellen? Z.B. einen Stuhl zusammenzusetzen? Das allermeiste, was in den modernen Teilchenbeschleunigern erzeugt wird, ist tatsĂ€chlich so instabil, dass es innerhalb von wenigen Sekundenbruchteilen wieder zerfĂ€llt. Man muss regelrechte Detektivarbeit betreiben, um herauszufinden, was da eigentlich entstanden ist.
Mitte der 50er Jahre war daher die Verwirrung groĂ. Da gab es auf einmal Neutrinos, Pionen, Myonen, Antimaterie und Pionen und und und.
Man brauchte Ordnung in diesem Chaos. Nach und nach wurde das Standardmodell der Teilchenphysik geboren. Dieses wies den bereits entdeckten Teilchen nicht nur einen Platz zu und erklĂ€rte, dass es Teilchen gibt, welche Materie aufbauen und Teilchen, welche KrĂ€fte ĂŒbertragen; wie jede gute wissenschaftliche Theorie bewĂ€hrte sich das Standardmodell durch Vorhersagen, die hinterher durch Experimente bestĂ€tigt wurden.
1964: Murray Gell-Mann und George Zweig sagten aufgrund theoretischer Ăberlegung die Existenz und die Eigenschaften von Quarks vorher, welche dann auch prompt nachgewiesen wurden. DafĂŒr gab es 1969 den Physik-Nobelpreis.
1967 veeinigten Sheldon Lee Glashow, Abdus Salam und Steven Weinberg die schwache Kern-Wechselwirkung mit dem Elektromagnetismus und sagten aufgrund dessen die Existenz und die Eigenschaften weiterer Teilchen hervor: Die W- und Z-Teilchen. Auch diese wurden gefunden. DafĂŒr gab es dann 1979 den Physik-Nobelpreis.
Das Standard-Modell der Teilchenphysik hat also nicht nur Ordnung geschaffen, jede einzelne Vorhersage wurde auch hinterher experimentell bestÀtigt. Es scheint also die Welt des Allerkleinsten ziemlich gut zu beschreiben:
Wir können erklĂ€ren, warum Atome stabil sind und Elektronen nicht zerstrahlen, woher die einzelnen KrĂ€fte kommen und warum sie unterschiedlich stark wirken und unterschiedlich weit reichen, aber das Standardmodell hat gleichzeitig ein schwerwiegendes Manko: Es fehlt die Gravitation und es fehlt vor allem an Masse. Das Standardmodell kann zunĂ€chst nicht erklĂ€ren, warum meine Waage schon wieder ein Kilo mehr anzeigt đ
Im Reich der Elementarteilchen ist das zunÀchst gar nicht mal so schlimm. Bei der Interaktion winziger Teilchen spielt die Gravitation so gut wie keine Rolle. Aber mal unter uns gesagt: Das ist doch schon etwas unbefriedigend, eine der GrundkrÀfte einfach unter den Tisch fallen zu lassen, weil es eben nicht so wichtig ist. Und Physiker geben sich mit so einer Mauschelei schon mal gar nicht zufrieden.
Hier kommt jetzt das berĂŒhmt-berĂŒchtigte Higgs-Boson (1) bzw. genauer gesagt das Higgs-Feld ins Spiel. Dieses Feld bringt durch einen Kniff Masse rein. Es sollte mit den Elementarteilchen interagieren und diese in ihrer VorwĂ€rtsbewegung hemmen. Je nach Teilchen mal mehr und mal weniger. ( Hier gibt es eine Veranschaulichung.) Es kommt TrĂ€gheit ins Spiel und TrĂ€gheit ist nichts anderes,als ein anderes Wort fĂŒr Masse. Da es zu jedem Feld nach dem Standardmodell auch ein dazugehöriges Teilchen geben muss, folgt daraus, dass wenn es ein solches TrĂ€gheitsfeld gibt, es auch ein TrĂ€gheitsteilchen geben muss und dass das relativ schwer sein muss. Es ist das letzte Puzzleteilchen im Erfolgsmodell Standardmodell der Elementarteilchenphysik und warum sollte ausgerechnet dieses Puzzleteilchen nicht existieren, wo doch die angrenzenden Puzzleteilchen alle darauf hindeuten, dass es da sein muss.
Bis auf seine genaue Masse sind sogar alle Eigenschaften ziemlich gut bekannt. Es darf keine elektrische Ladung haben, es sollte den Spinzustand 0 haben und sollte zwischen 117 bis 157 Gigaelektronenvolt schwer sein. Seit 1964 also seit nunmehr 44 Jahren ahnen Teilchenphysiker weltweit, dass da etwas sein muss. Aber jetzt erst rĂŒckt das Higgs-Boson in Reichweite. Vor einigen Jahren hofften die Forscher am Tevatron in Chicago, den Preis fĂŒr die Entdeckung zu bekommen. Aber schon damals war klar, dass der amerikanische Teilchenbeschleuniger vermutlich zu schwach auf der Brust sein wĂŒrde.
Jetzt ist die Zeit des neuen Experimentes LHC am CERN gekommen. Und wenn das nichts findet, dann weiĂ ich es auch nicht đ
Jetzt könnte man sagen: Was soll der Driss? MĂŒsst Ihr unbedingt alles wissen wollen?
Ja, wir mĂŒssen, wir wollen es wissen.
Es ist eine Sache indirekt darauf zu schlieĂen, dass da etwas sein muss, das Materie schwer macht. Aber um wie viel befriedigender ist es, wenn ich direkt mit dem Finger drauf zeigen und sagen könnte: Da ist der ĂbeltĂ€ter. Der verschiebt immer den Zeiger meiner Waage nach oben đ (2)
Letztendlich geht es um die fundamentale Frage: Warum ist die Welt so wie sie ist und nicht ganz anders? Und es geht darum, das Staunen nicht zu verlernen, dass die Welt so ein seltsamer Ort ist und uns zum Beispiel ungefragt einen Teilchenzoo beschert, indem man erst mit neuer Mathematik Ordnung schaffen kann.
AuĂerdem hoffe ich sehr, dass sich uns noch mehr Ăberraschungen erschlieĂen. Was wĂ€re die Welt ohne Ăberraschungen?
Langweilig!
Nachtrag:
Ich hab die Welt der Teilchenphysik hier nur grob umrissen, um einen gewissen Ăberblick zu geben. Wie gut, dass ich da eine ganz hervorragende deutsche Internetseite kenne, auf der man so richtig eintauchen kann, wenn man die Lust dazu verspĂŒrt:
DESYs KworkQuark.
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(1) Warum eigentlich so ein bescheuerter Name? Ganz einfach. Der Herr, der das Ganze abgeleitet und vorgeschlagen hat, heiĂt so: Peter Higgs. Und der kriegt dann auch den Nobelpreis, wenn das LHC tatsĂ€chlich das gesuchte Teilchen finden sollte.
“My Life as a Boson” Vorlesung von Peter Higgs. Humor hat er ja đ
(2) Ok, ok. In Wahrheit ist es meine Vorliebe fĂŒr SĂŒĂes und der Mangel an Bewegung, aber Higgs-Boson klingt irgendwie besser.
Kommentare (8)