Teil 1: Psychologie für Zeitnehmer.

Zeitnehmer ist mit der anstrengendste Job unter den Kampfrichtern. Es gibt ziemlich viel zu tun und dementsprechend viele Möglichkeiten was falsch zu machen.

Zuallererst soll man als Zeitnehmer drauf achten, dass der richtige Schwimmer vor Ort ist. Bereits bei dieser Tätigkeit hilft ein wenig Vertrautheit mit wissenschaftlicher Denkweise. Genauer gesagt mit dem Phänomen der selektiven Wahrnehmung. Salopp ausgedrückt: Wir hören nur das, was wir auch hören wollen. Alles andere geht durch unseren internen Spam-Filter erst gar nicht durch.

Dennoch machen viele neue Kollegen leider den Fehler an den Schwimmer heranzutreten und zu fragen: “Bist Du der xyz?” Zum Glück weisen inzwischen auch die Ausbilder darauf hin, dass diese Strategie nicht funktioniert. Die meisten SchwimmerInnen, die so angesprochen werden, antworten nämlich mit “ja”. Selbst dann, wenn der Name falsch sein sollte. Insbesondere Kinder, die ihre ersten Wettkämpfe fahren, sind so aufgedreht, dass die einfach zu allem “ja und Amen” sagen. Dummerweise sind das aber genau die Schwimmer, die sich auch am ehesten in der Bahn bzw. im Lauf vertun. Die Folge ist dann meist: Wütende Eltern/Trainer, heulende Kinder, Chaos im Protokollraum, genervte Schiedsrichter…Kurz: Nicht gut.

Besser ist es zu fragen: “Wer bist Du?” Es ist wirklich erstaunlich, wieviele SchwimmerInnen “Ja” heißen und sich auf meine Bahn verirren, obwohl sie gar nicht gemeldet sind 😉

Hauptsächlich ist man aber natürlich zum Zeitmessen da. Man kriegt ne Stoppuhr in die Hand gedrückt, startet die auf das Startsignal und stoppt, wenn der Schwimmer im Ziel angeschlagen hat. Klingt eigentlich simpel.

Wäre da nicht die menschliche Reaktionszeit. Hier geht es genauer gesagt um eine Reaktion auf ein erwartetes unmittelbar bevorstehendes Ereignis. Das ist nicht zu verwechseln mit der so genannten Schrecksekunde, welche die Zeitspanne zwischen einem unerwarteten Ereignis und der Reaktion bezeichnet. Die ist viel länger als die Reaktionszeit in der Situation eines Zeitnehmers. Noch genauer gesagt handelt es sich hier um eine Einfachreaktion. Ein Signal und eine mögliche Aktion als Antwort. Heißt hier: Pfiff->Startknopf drücken bzw. Pfiff->Sprung ins Wasser.

Es gibt auch die Mehrfachreaktionen. Z.B. das Abtippen von Buchstaben vom Bildschirm. Hier spalten sich die Reaktionszeiten übrigens auf: Und zwar nach IQ laut dem Hickschen Gesetz. Die Differenz kann allerdings mit Übung ausgeglichen werden.(1)

Als Obergrenze für eine annehmbare Reaktionszeit wird im Schwimmsport bei der Handzeitnahme eine Abweichung von 2 Zehntelsekunden akzeptiert. Wirklich gute Zeitnehmer kriegen mit ein wenig Übung sogar 1 Zehntelsekunde hin.

Wobei es noch drauf ankommt, welcher Art der Reiz ist , auf den ich reagieren soll. Menschen scheinen am ehesten auf taktile, etwas langsamer auf akustische und noch langsamer auf optische Signale zu reagieren.

Es scheint also sinnvoll, das Startsignal – wie im Schwimmsport üblich – akustisch zu geben. Auch wenn ein taktiles Startsignal theoretisch die Schwimmer schneller ins Wasser springen lassen würde. Das stelle ich mir allerdings schwierig umzusetzen vor. Andererseits…Barfuß auf einem nassen Startblock? Da könnte ein leichter Stromstoß Wunder wirken 😉 Okay, okay, kein ernstzunehmender Vorschlag. Wir wollen nicht das Milgram-Experiment wiederholen.

Als Zeitnehmer sollte man sich aber einfach die zwei Zehntelsekunde als Obergrenze merken und kontrollieren. Wer das – aus welchen Gründen auch immer (Krankheit, Medikamenteneinnahme, Alkohol, Übermüdung, Alter etc.) – nicht schafft, sollte dann aber auch so ehrlich sein und den Schwimmern zuliebe die Stoppuhr an den Nagel hängen.
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(1) Was mal wieder bestätigt, was ich und vielleicht auch einige andere im Studium erlebt haben. Entweder man kommt mit extrem viel Intelligenz und wenig Mühe ans Ziel oder mit weniger Intelligenz und dafür mehr Arbeit.

Ich hab übrigens die Erfahrung gemacht, dass die Überflieger durchaus sogar Probleme im Studium bekommen können. Meist sind das diejenigen, die in der Schule immer eine glatte 1 hatten. Dann kommen sie auf die Uni und merken, dass da neben ihnen noch andere schlaue Menschen herumlaufen, die sogar *oh mein Gott* besser als sie sind. Oder dass sie eben nicht auf Anhieb alles verstehen, was der Mensch da vorne von sich gibt. Dass sie das ernsthaft nachschlagen müssen. Oder sich damit abfinden müssen, dass sie nicht alles verstehen werden, sondern sich auf etwas konzentrieren müssen.

Das kann schon ein ziemlicher Schock sein, von dem man sich erst einmal erholen muss. Und dann müssen sie eventuell lernen, wie man lernt. Wem alles zufliegt und es vielleicht sogar cool findet, nix lernen zu müssen, der tut sich damit ziemlich schwer. Arbeiten und Disziplin muss auch gelernt sein. Es erst auf der Uni zu lernen, ist verdammt schwer.

Kommentare (4)

  1. #1 sil
    April 30, 2010

    Oh ja, ich musste an der Uni wirklich erst das Lernen lernen und Kommunikationsprobleme durch ungeschicktes Fragen sind mir aus dem Berufsleben nur zu gut bekannt.
    Geschlossene Fragen vermeiden, heißt die Devise.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Fragetechnik#Fragekategorien

  2. #2 BreitSide
    April 30, 2010

    Jaja, das (1) ist in unserer Familie gut zu erkennen, beide Ausprägungen. Ich sage nicht, wer was war…:-)

  3. #3 definition
    Mai 7, 2010

    Also, wenn jemand so verschnupft ist, das er die Stoppuhr kaum noch halten, dann sollte diese Person schon merken, dass das Nehmen der Zeit nicht mehr in Frage kommt.

    Aber mal davon ausgehend, dass man auf voller körperlicher und geistiger Höhe ist, sollte das doch kein Problem sein. Sport interessiert mich nur rudimentär und weiß nicht, wie genau die das haben wollen. Aber im ersten Semester haben wir schon gelernt, dass wenn wir die Pendelschwingung von so einem Fadenpendel so um die zehnmal messen, dass wir dann die Reaktionszeit vernachlässigen können. Dabei nehmen wir an, dass die Reaktionszeit um einen konstanten Mittelwert nur leicht schwankt. Und wenn man genügend Messungen macht, kürzt sich die (halbwegs konstante) Reaktionszeit immer raus. Denn wenn ich eine halbwegs konstante Reaktionszeit von sagen wir 0,2 Sekunden habe, dann verzögert sich zwar der Begin der Messung um diese Zeit, aber wenn ich am Ende des Experiments immernoch die selbe Reaktionszeit habe, dann verzögert sich auch das Ende der Messung um eben diese Zeit. In der Zeitdifferenz kürzt sich die Reaktionszeit dann raus.

    Also zusammengefasst ist eigentlich egal wie lang die Reaktionszeit ist, solange sie konstant ist. Das ist viel wichtiger. Es ist zum Beispiel auch egal wie lange man braucht, um die Taste runter zu drücken. Da die stoppuhr immer nach der selben Zeit reagieren wird. (Das Ausleiern der Tasten vernachlässige ich jetzt mal.) Ich hab mal aus Langeweile die Stoppfunktion meiner Armbanduhr ausprobiert und versucht so schnell wie möglich die Taste zweimal direkt hintereinander zu drücken. Ich kam reproduzierbar immer auf 16 Hundertstel. Schneller ging nich. Nur ganz selten warens 17. Das einzige Problem was wir haben, ist, wenn die Leute per Hand (und nicht zum Beispiel Laserschranke) messen, aber trotzdem noch drei Stellen hinterm Komma mitnehmen wollen.

  4. #4 Ludmila
    Mai 7, 2010

    @definition: Die Situation mit dem Pendel ist da nicht ganz vergleichbar. Du setzt das Ding in Bewegung und misst dann immer einen Zyklus. Da das Pendel ja nicht ruckartig von A nach B geht, kannst Du ein bisschen vorhersehen, wann das Pendel den höchsten Ausschlag hat. Und zwar für jeden einzelnen Zyklus.

    Bei der Situation im Schwimmbad ist der Start zwar innerhalb der nächsten Sekunden erwartet, aber Du kannst schwer vorhersehen, WANN der Pfiff nun wirklich kommt. Es ist ein singuläres Ereignis.

    Das Ende dagegen ist vorhersehbar. Ich seh ja, dass sich der Schwimmer nähert und wie schnell er ist. Dadurch ist die Reaktionszeit am Ende nicht mehr mit der am Anfang vergleichbar und dadurch kommt es dann doch zu einem Einfluss.

    Na ja und das mit dem 10mal messen ist halt im Sport nicht praktikabel. Allerdings für Rekorde bei Handzeitnahme ist vorgeschrieben, dass 3 Zeitnehmer gleichzeitig die Zeit stoppen. Was nur geht, wenn man es vorher anmeldet. Dadurch kann man halbwegs praktikabel auch im Schwimmsport über 3 Zeiten mitteln und kriegt es so eher in den Griff.