Es ist ja nicht so, als stünde in den Zeitungen nur Käse zum Thema Fukushima und zum Thema Kernkraft. Ich wollte mal auf zwei Artikel aufmerksam machen, die mich entweder überraschten oder aber (Spiegel, listen!) mir sehr gut recherchiert erschienen.
Der erste ist von Pierre Radanne, einem Umwelt- und Energieexperten mit grünem Hintergrund, der einen Meinungsartikel in der Liberation veroffentlichte. Der zweite ist aus der post-Fukushima Ausgabe des Economist und wie immer im Economist ohne Autorennennung. Radanne geht zwei interessanten Punkten nach. Warum gibt es eigentlich so unterschiedliche nationale Kernkraftlandschaften und was hat Kernkraft grundsätzlich mit Demokratie zu tun? Japan deckt mit seinen 55 (14 im Bau/Planung) Kernkraftwerken rund 30% des nationalen Strombedarfs und Frankreich mit seinen 58 (2) sogar an die 80%. Warum eigentlich? Warum gibt es keines in Holland (falsch, es gibt eins. Siehe unten) oder Italien? Warum scheint (ohne dass ich das jetzt nachprüfen könnte) selbst jetzt in Japan nicht grundsätzlich an der Kernkraft gezweifelt zu werden und warum demonstrieren in Deutschland 100 Mal mehr Menschen gegen Kernkraft als in der Ukraine, in den USA oder in Japan, wo es doch in Deutschland nie einen Kernkraftunfall gegeben hat, der einer Erwähnung wert gewesen wäre, während in diesen drei Ländern, na ja, ihr wisst schon.
Bild 1: Mein Kanji ist ein wenig eingerostet, aber diese vielleicht 100 Protestierer in Tokyo wenden sich gegen die Nutzung der Kernenergie.
Radanne meint, der Unterschied läge, gerade was Frankreich und Japan einerseits und was Deutschland andererseits angeht, in nationalen Traumata, die gewissermaszen eher zufällig die jeweilige Haltung zur Hochtechnologie Kernkraft prägten. Frankreich hat, so Radanne, die Niederlage 1940 in erster Linie als Modernisierungsmangel wahrgenommen, in der eine letztlich Agrarnation Frankreich gegen ein hochindustrialisiertes Deutschland unterlag. Modernität und High-Tech haben in Frankreich, so auch meine Wahrnehmung nach fast 15 Jahren dort, einen Wert an sich, der nicht weiter hinterfragt wird und der sich ja unter anderem auch an einer groszen Lust an moderner, avangardistischer Architektur zeigt. Der touristische Blick auf Frankreich täuscht da sehr. Dem Franzosen liegen sicher die Loire Schlösser und die Tradition am Herzen, aber er, der virtuelle Standard-Franwose, ist auch ein Freak von sichtbarem und spürbaren High-Tech. Wer durch eine gedachte Linie vom Toreingang des Louvre Richtung Arc de Triomphe schaut, sieht dahinter die in 6 km aufragenden ultramodernen Bürotürme des gröszten Geschäftszentrums Europas, La Defense.
Japan andererseits hat sich 1868 zum Ende des isolationistischen Kurses des alten Meiji Regimes entschieden und in einem zuerst nur von der nationalen Elite, aber schliesslich von der ganzen Bevölkerung getragenen Kurs der Modernisierung und Industrialisierung eine unglaubliche Entwicklung genommen, die selbst durch den zweiten Weltkrieg nicht wirklich unterbrochen wurde. Von einem spätmittelalterlichen Ständestaat zur High-Tech Nation dieses Planeten schlechthin in nur 100 Jahren. Ein nationaler Erfolgsrausch, der den Japanern praktisch in die DNA geschrieben ist.
Bild 2: 5500 Flugkilometer von Tokyo entfernt demonstrieren allein in Berlin 50.000 Menschen gegen die Kernkraft.
Ganz anders Deutschland, welches im WWII sein nationales Trauma schlechthin erlebte. Die Gefühle von Niederlage und Schuld sedimentierten schliesslich, zumindest in Westdeutschland, in einem tief verwurzelten Misstrauen gegen den Staat und seine Eliten. Die Elitenentscheidung Kernkraft steht also in Deutschland, so Radanne, unter einem permanenten Generalverdacht ganz unabhängig davon, wie gut oder schlecht diese Technologie denn nun in Deutschland funktioniert.
Schliesslich wirbt Radanne für eine basis-demokratische Lösung des Problems, also des Umgangs mit der Kernkraft und, ich nehme an im Allgemeinen, der Energieerzeugung, welches seiner Meinung nach zu sehr von den entsprechenden Experten bestimmt würde. Der Durchschnittspolitiker weiss nichts bis fast nichts von der Sicherheit von Kernkraftanlagen oder den Problemen der Endlagerung (Es sitzen momentan 4 Physiker im deutschen Bundestag, aber 153 Juristen und 114 BWLer) und doch müssen sie entscheiden. Einzige Lösung für so einen Durchschnitsspolitiker ist es dann, die Experten zu fragen (wie auch nicht) und schon gibt es einen manifesten Bias in der Entscheidungsfindung.
Ich finde Radannes Idee der nationalen Technikpsychologie eigentlich ganz überzeugend und vermute mal, dass es dazu irgendwo auch ganze Wälzer gibt (“Nationale Geschichte und Technikakzeptanz” oder so). Wie sonst will man erklären, dass momentan in Tokyo gerade mal eine Metro voll von Leuten gegen die Kernkraft diskutieren und 8000 km von Fukushima entfernt die halbe Republik auf die Strasse geht. Mit der basis-demoktaischen Entscheidung zum Thema bin ich natürlich auch einverstanden, und wie es aussieht, ist ja dann bald Schluss mit dem Atom in Deutschland und “wir” kaufen den Strom dann ganz sicher und verträglich jenseits des Rheins ein. Vielleicht muss man das dann aber auch mit einer gewissen Bringleistung der Basis verbinden. Sollte jemand der komplizierte technologische Entscheidungen treffen will, nicht ein Mindestmasz an Wissen zum Thema haben? Oder reicht es einfach genügend Angst zu empfinden?
Nun, gehen wir mal davon aus, die Welt vergreenpeacte und alle wollten raus aus der Kernkraft. Was wuerde der Spass eigentlich kosten, gerade auch aus Sicht des ablaufenden Klimawandels? Der Economist rechnet es vor. Im Jahre 2009 wurden 9 Milliarden Tonnen CO2 bei der Stromerzeugung weltweit freigesetzt, 30 Milliarden Tonnen setzt die gesamte industrielle Tätigkeit des Planeten frei und ca. 50 Milliarden waren es, wenn man alles zusammenzählt, also auch die besten Abschätzungen zu Reforestation und die sogenannte CO2 Äquivalente der anderen Treibhaus-Gase, Methan, N2O etc.. Die durch die weltweit tätigen 443 nuklearen Reaktoren gesparten 2 Milliarden Tonnen entsprechen in etwa den Gesamtemissionen Deutschlands und Japans zusammen. Ist das nun viel oder wenig?
Das sogenannte 2°C besteht ja nun darin, die globalen Emissionen so zu gestalten, dass die Erwärmung des Planeten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit unter 2°C gehalten werden kann. Dazu müssten bis 2020 die Emissionen auf 44 Milliarden Tonnen CO2 limitiert werden, im Vergleich zu den 2009 Emissionen also 6 Milliarden Tonnen weniger bei natürlich steigender Produktion weltweit. Die 2 Milliarden Tonnen, die vom Atomstrom gespart warden, sind also ein durchaus spürbarer und nicht völlig vernachlässigbarer Beitrag. Meiner wie immer nicht besonders optimistischen Meinung nach werden wir bis 2020 ohnehin eher bei 60 Milliarden Tonnen Emissionen liegen (wir treffen uns hier in 10 Jahren wieder) und werden dann diskutieren, wie man wohl das 3°C Ziel einhalten könnte.
Mehr Informationen zum Thema Kernkraft mit hübschen Klickgrafiken auf der Economist Webseite zum Thema.
PS Zwei aufmerksame Leser haben darauf aufmerksam gemacht, dass es doch ein Kernkraftwerk in Borssele in Holland gibt. Danke.
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