Nach der Atomkatastrophe von Fukushima ist in Deutschland ein rascher Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen worden. Von einigen, sogar sehr um Umwelt und Klima besorgten Journalisten aus dem Ausland wurde dies stark kritisiert, während die Entscheidung in Deutschland allgemein sehr positiv aufgenommen wurde (über 80% Zustimmung nach den letzten Umfragen). Die in diesem Zusammenhang einberufene Ethikkomission (hier und hier mit dem Bericht selbst) zum Atomausstieg macht aber auf zwei Dilemma des Ausstiegsbeschlusses aufmerksam: 1) Die ohnehin schon anspruchsvollen Ziele Deutschlands zur Reduzierung der CO2 Emissionen könnten gefährdet werden, da in einem relativ kurzen Zeitraum (man spricht von 10 Jahren) eine zusätzliche Energiemenge von jährlich 100000 GWh CO2-frei produziert werden müssen. 2) Aus offensichtlichen Gründen verbietet sich nätürlich auch, den zu ersetzende Atomstrom in anderen Ländern zu kaufen, denn im Normalfall kauft man da ja entweder Atom- oder Kohlestrom.
Bild 1: Gesamtstromproduktion in Deutschland in GigaWattStunden. Quelle AG Energiebilanzen.
Es droht also ein Zerreiben zwischen der Scylla des Treibhausgassünders und der Charybdis einer geradezu unverschämten Heuchelei: Wir sind ausgestiegen und lassen die anderen einsteigen. Bei dem aus Klimagründen allein ja schon kritisierbaren, möglichen Anstieg an Krafwerksleistung aus fossilen Brennstoffen muss man sogar von einer doppelten Heuchelei sprechen. Schliesslich werden weltweit in Kohlekraftwerken ca. 10.000t Uran und ca 24.000t Thorium bei der Verbrennung völlig unkontrolliert in die Atmosphäre gepustet. Man hätte also in dem Fall eigene Kernkraftwerke durch Kohlekrafwerke ersetzt, die Uran und Thorium über unsere europäischen Nachbarn niederrieseln lassen. Die Frage lautet also, lassen sich Syclla und Charybdis umsegeln?
Bild 2: Anteil der Kernkraft an der deutschen Stromproduktion.
In ersten Berichten zu den “beobachtbaren” Konsequenzen des deutschen Teilausstiegs, der seit März also ca. 8,5 GW vom Netz genommen hat, wird allgemein aber beruhigt: Es sei nichts passiert.
Ich wollte einmal nachschauen, ob man aus den veröffentlichten Zahlen zur Energieproduktion auch als Laie irgendetwas Signifikantes ablesen kann. Gibt es nun mehr importierten Atomstrom oder nicht? Wurde Atomstrom durch Kohlestrom ersetzt oder nicht? Ich bin absoluter Laie auf dem Gebiet und man mag mich für mögliche Fehler bitte korrigieren.
Hier meine Annahmen. 1) Der Datensatz stammt von der AG Energiebilanzen, die von einigen groszen Kohle- und Erdölfirmen betrieben wird. Ich weiss nicht, ob diese Statistiken ok sind oder ob es irgendwo deutlich andere Zahlen gibt. 2) Ich habe mir die Zahlen von 1990 bis 2011 zur Stromproduktion in Deutschland herausgesucht. 2011 beruht teilweise noch auf Abschätzungen. Ich habe die Gesamtstromproduktion, den Import und Export, sowie die vier wichtigsten Stromproduzenten angeschaut: Braunkohle, Steinkohle, Kernkraft und die erneuerbaren Energien.
Bild 3: Jahr zu Jahr Differenzen der Kernkraftvariationen.
Mich interessiert, was in 2011 als Folge des Ausstiegs passiert ist. Selbstverständlich hatte die Politik noch kaum Zeit, einen langfristigen Plan etwa zum verstärkten Ausbau erneuerbarer Energie umzusetzen. Trotzdem halte ich so eine vorläufige Beurteilung des Ausstiegs für gerechtfertigt. Schliesslich war ja gerade dieses Abschalten von heute auf morgen auch eine politische Entscheidung (man hätte ja auch sehr langsam den Ausstieg vorbereiten können), die selbstverständlich in Hinblick auf das, was man erreichen wollte, beurteilt werden kann. Es gibt uns auch eine Idee, was die wahrscheinlichen Konsequenzen eines noch schnelleren totalen Ausstiegs wären. Vielleicht kann man ja so sehen, ob ein Ausstieg in vier Jahren, wie von Greenpeace vorgeschlagen, wirklich eine gute Idee ist, und zwar gerade dann, wenn man die Ziele von etwa Greenpeace teilt.
Bild 4: Jahr zu Jahr Differenzen der Kernkraftvariationen um den Trend bereinigt. Der graue Bereich entspricht ± 1 sigma dieser Zeitserie.
So oder so, ich habe jedenfalls beim Erstellen der folgenden Grafiken etwas gelernt – zumindest habe ich das Gefühl. Nehmen wir z.B. mal die Gesamtstromproduktion in Bild 1. Sehr schön sieht man neben einem allgemeinen Anstieg im Stromverbrauch während der letzten 21 Jahre etwa die Folgen der globalen Wirtschaftskrise im Jahr 2009. Ein deutlicher Peak nach unten, gefolgt vom Aufschwung 2010.
Bild 5: Verlauf des Braunkohle und Steinkohle-Anteils und des Anteils erneuerbarer Energien and der deutschen Stromproduktion.
In Deutschland wird ja Gottseidank kaum mit Strom geheizt (nicht so bei mir zu Hause, seufz). Aber in der letzten Dekade gab es ja einen starken Anstieg von Wärmepumpen in privaten Haushalten. Das ist natürlich eine gute Sache. Wärmepumpen sind sehr effektiv, sicher und zumindestens potentiell CO2 frei. Es kommt halt darauf an, woher der Strom kommt. Das aber heisst natürlich, dass es in der deutschen Gesamtproduktion einen zunehmend wachsenden, witterungsabhängigen Anteil geben wird, wie es ihn ja schon in Frankreich gibt, wo massiv elektrische Primitivheizungen zum Einsatz kommen (ich hatte dort 5 Jahre eine). Man wird also in Zukunft immer besser Jahre mit kalten und solche mit milden Wintern in der Gesamtstromproduktion erkennen können.
Bild 6: Jahr zu Jahr Differenzen von Braunkohle, Steinkohle und Erneuerbaren.
Dann gibt es natürlich politische Entscheidungen. Der Atomausstieg oder der Ausbau der Erneuerbaren sind da nur Beispiele. Es können aber auch eine längerfristige Zusammenarbeit mit dem Gaslieferanten Russland sein oder viele kleine Entscheidungen, die einen Einfluss auf die Preisstruktur haben und Entscheidungen von Verbrauchern und Anbietern beeinflussen.
Und schliesslich gibt es das ganze Spektrum völlig undurchsichtiger oekonomischer Vorgänge auf dem europäischen Strommarkt. Da kann dann mal der eigene Kohlestrom teurer sein als der französische Atomstrom oder die Windfarmen in Holland preiswerter als die eigenen in der Ostsee.
Bild 7: Residuum der Jahr zu Jahr Differenzen von Braunkohle, Steinkohle und Erneuerbaren. Der braune/graue/grüne Bereich entspricht ± 1 sigma der jeweiligen Zeitserie.
All diese langfristigen Entscheidungen, politischen, technologischen, ökonomischen und meteorologischen Faktoren betrachte ich jetzt mal als Noise und versuche ihn irgendwie loszuwerden. Übrig bleiben soll möglichst die Entscheidung zum Abschalten der 8 ältesten deutschen Atomkraftwerke im März letzten Jahres, um zu sehen, ob man einen signifikanten Einfluss dieser Entscheidung angesichts des Noise all der anderen Faktoren erkennen kann.
Nun, ganz einfach ist das bei der Kernkraft selber. Bild 2 zeigt den Kernkraftanteil an der deutschen Stromproduktion. Sicher gab es auch im Jahr 2006 mal einen kräftigen Einbruch (Weiss einer, was da los war?), aber sicher war das Jahr 2011 der gröszte Einschnitt. Man bedenke ja auch, dass im Grunde nur ¾ des Jahres vom Ausstiegsbeschluss beeinflusst ist.
Wir sind ja im Moment nur an den Jahr zu Jahr Variationen interessiert, nicht an den langfristigen Aufs und Abs. Schlieslich wollen wir ja etwas üeber den 2011er Ausstiegentschluss und seinen Konsequenzen wissen. Also berechnen wir einfach genau diese Jahr zu Jahr Differenzen (Bild 3), was im Übrigen der Berechnung der Ableitung der Kurve entspricht. Es gibt offensichtlich einen Trend von leicht positiven zu immer negativeren Differenzen, was dem leichten Anstieg der Kernenergie von 1990 bis 2000 und dann dem Abfall von 2000 bis 2011 entspricht. Ich betrachte im Folgenden nur das Residuum zu diesem Langzeittrend. Trends in den Jahr su Jahr Differenzen können mit vielen Dingen zu tun haben: Hier etwa immer häufiger notwendige Wartungen bei alternden Anlagen, Strompreise, etc.
Bild 8: Verlauf von Import und Export von Strom aus und nach Deutschland.
Was bleibt sind also die Anomalien (Residdum zur Gerade) dieser Jahr zu Jahr Variationen (Bild 4). Ich habe die Standardabweichungen der Variationen mit eingezeichnet. Das Abschalten 2011 entspricht also einem 2 sigma Ereignis und ist, wie es uns der Blick auf die eigentlichen Daten (Bild 2) ja schon gezeigt hat, das gröszte Ereignis für die Kernkraft in Deutschland. Für mich etwas überraschend gab es aber 2006 ebenfalls einen starken Rückgang der Kernkraft.
Ok, so weit, so interessant. Was ist jetzt bei der Braunkohle, Steinkohle und den Erneuerbaren in Deutschland los? Bild 5 zeigt die drei Quellen der Stromproduktion. Braunkohle ist seit 20 Jahren relativ stabil, Steinkohle geht kontinuierlich zurück und die Erneuerbaren nehmen exponentiell zu, sind aber doch noch nicht da wo ich sie in Bild 5 eingezechnet habe. Ich habe 80000 GWh dazuaddiert, um alles auf eine Graphik zu bekommen. Schon kann man erkennen, dass das letzte Jahr einen sehr starken Anstieg der Erneuerbaren zeigte.
Ihr wisst sicher, wie es weitergeht. Rasch die Differenzen bilden (Bild 6) und die Trends berechnen. Während Kohle und die Erneuerbaren einigermaszen mit einem linearen Trend beschrieben sind, zeigt die Braunkohle ein etwas seltsames Verhalten. Ich habe mal einen Fit durch die Daten berechnet und den dann von den Differenzen abgezogen. Weiss vielleicht jemand was mit der Braunkohle im Jahr 2000 und 2001 passierte?
Bild 9: Jahr zu Jahr Variationen von Stromimport und Export.
Bild 7 zeigt dann wieder die entsprechenden Anomalien. Die Braunkohle und die Erneuerbaren zeigen im Jahr 2011 den zweitstärksten bzw. den stärksten Anstieg der letzten 21 Jahre. Gemessen an der Variabilität beider Zeitserien ist aber 2011 nicht wirklich aussergewöhnlich. Der Anstieg bleibt sozusagen im Rahmen dessen, was vielleicht kalte Winter oder irgendwelche Preisverschiebungen auch bringen könnten. Der Anstieg der Erneuerbaren könnte also sowohl dem politischen Willen entsprechen, die abgestellten Kernkraftwerke durch saubere Energien zu ersetzen oder auch der Torschlusspanik der PV Betreiber angesichts sinkender garantierter Abnehmerpreise, noch möglichst viele Anlagen ans Netz zu bekommen. Schwer zu sagen. Zusammenfassend kann man sagen, dass es möglicherweise (likely? very likely?) eine nationale Response auf den Ausstiegsbeschluss gab und die im Hochfahren aller verfügbaren Erneuerbaren und im Anschschmeissen der Braunkohlekraftwerke bestand.
Bild 10: Residuum der Jahr zu Jahr Variationen von Stromimport und Export (mit Standardabweichung).
Und wie sieht es nun mit den Export/Import aus? Import und Export hielten sich über den gröszten Teil immer ungefähr die Waage (Bild 7). Ich nehme mal an, dass der allgemeine Anstieg von Im- und Export mit der steigenden Gesamtstromproduktion und der immer stärkeren internationalen Verzahnung der verschiedenen nationalen Netze zusammenhängt. Ob die Entkoppelung der beiden seit ungefähr 2005 mit dem gleichzeitigen Zurückfahren der deutschen Kernenergie zusammenhängt (siehe Bild 2), weiss ich nicht. Bild 8 zeigt wieder die Jahr zu Jahr Variationen und die beiden relativ kleinen Trends.
Bild 11: Residuum der Jahr zu Jahr Variationen des deutschen Netto (Import-Export) Stromflusses.
Bild 9 zeigt wie immer die um den Trend bereinigten Variationen. Sowohl Strom-Import als auch Strom-Export sind Jahr 2011 stark zurückgegangen (beide liegen auf dem zweiten Platz des jeweiligen Rankings). In den Jahren aber, in denen zuvor der Import/Export einen starken Rückgang erfahren hatte, wurde dieser Rückgang jeweils durch den entsprechenden Export/Import kompensiert (siehe 2004/2005 oder 2007/2008). Dieses Mal aber sind BEIDE stark zurückgegangen. Bild 10 zeigt den Netto Import-Export Fluss und jetzt sticht das Jahr 2011 deutlich heraus (ca. 2 sigma). Noch nie hat Deutschland so viel Strom auswärts gekauft und so wenig ins Ausland verkauft, wobei es aber immer ein Nettoproduzent blieb.
Fazit: So wie ich diese Zahlen verstehe, zeigen sie als wahrscheinliche Konsequenz des 2011 Abschaltens von 8 deutschen AKWs einen möglicherweise leicht erhöhten Anstieg der deutschen Braunkohleverbrennung und einen starken Anstieg der verfügbaren Erneuerbaren. Der Netto-Stromfluss Deutschlands ging stark zurück. Der importierte Strom kommt haupsächlich vom groeszten deutschen Partner bei der Energieproduktion, von Frankreich, und besteht somit zu 90% aus Atomstrom.
Perspektive: Das sind sehr vorläufige Schlussfolgerungen. 2011 war ein sehr milder Winter (die kalten Tage des Winters lagen eher im Februar 2012). Dies mag einen Einfluss haben. Eine echte Bilanz, bei der die Folgen des 2011 Beschlusses klar vom Jahr zu Jahr Rauschen zu unterscheiden sind, braucht wahrscheinlich noch ca 2-4 Jahre mehr an Daten. Und dann kann man vielleicht sogar realistische Abschätzungen für die verschiedenen Extraflüsse geben und sehen ob David Strahans pessimistische Abschätzung von 300 Millionen deutschen Extratonnen CO2 realistisch war.
h/t Peter Heller für die Links zu den hier verwandten Statistiken der AG Energiebilanz.
Kommentare (83)