Man könnte das entsprechende Paradigma der damaligen Zeit so formulieren: Alle Variabilität, die sich in marinen Sediment-Kernen in den verschiedenen Proxies finden lässt, ist entweder assoziiert zu den entsprechenden Milankovitch Zyklen oder eben Noise, der durch alles mögliche verursacht werden kann (Bioturbation, Datierungsprobleme, Messfehler). Bis dann Hartmut Heinrich daherkam, mariner Geologe, der am Deutschen Hydrographischen Institut arbeitete. Seine Aufgabe in dieser Behörde war es, Stellen im Atlantik zu finden, die eine sehr hohe Sedimentationsrate haben und die sich potentiell dazu eigneten, hochgiftigen Abfall fix loszuwerden. Die Sedimentkerne, die er zog, wurden also in erster Linie zur Abfallbeseitigung und zum Zwecke der Sedimentationsraten-bestimmung gezogen. Bei der Analyse fiel ihm auf, dass es in den Kernen, die einen Teil der letzten Eiszeit überdeckten, schnelle und drastische Variationen in der petrologischen Zusammensetzung gab und schloss darauf, dass wohl ab und an Eisberge über die jeweilige Stelle im Atlantil sausten und diesen steinigen Balast abwarfen. Warum nicht veröffentlichen, wenn man schon mal dabei ist, selbst wenn es ihm bei seiner eigentlichen Arbeit nicht unbedingt weiterhalf? Die Arbeit erschien im eher unscheinbaren Quaternary Research, an sich nicht schlecht, ein Paper dort kann aber durchaus mal völlig vergessen werden.
Wurde es aber nicht. Einer der Titanen der Paleoklimatologie, Wallace Broecker, damals Chef des Lamont-Doherty Laboratoriums entdeckte das Paper und rief Heinrich an. Ob er sich denn wirklich sicher sei? Wenige Wochen später schickte Lamont ein ganzes Team nach Hamburg. Sie wollten mit eigenen Augen “sehen”, dass da tatsächlich in der Sedimentzusammensetzung von zumindest einigen Kernen in IHREM Nordatlantik organisierte und anscheinend nicht gerade kleine Mengen von Eisberg-Markern zu finden sind. Und sie wollten vor allem die Bestätigung haben, dass da Klimavariabilität jenseits der Milankovitch Zyklen stattfindet. Nachdem sie sich in Hamburg davon überzeugt hatten, dass Heinrich alles korrekt gemessen und interpretiert hatte, kehrten sie immer noch verblüfft zu sich nach New York in das weltweit gröszte Sedimentkernlager mit 1000enden von gelagerten Kernen zurück. Und siehe da, sie waren immer schon da, die Heinrich Events. Die New Yorker Paleo-ozeanographen hatten die gleichen Signale immer schon vor Augen gehabt, wenn sie ihre Kerne auf der Suche nach Milankovitch Zyklen durchforsteten, aber sie haben sie einfach nicht wahrgenommen. Ein perfektes Beispiel für einen Kuhnschen Paradigmenwechsel (es gibt also grossräumige Klimavariabilität unterhalb der Milankovitch Zyklen) und seiner Analogie mit einem Vexierbild. Und genau wie in dem Beispiel oben mit Herschels Entdeckung des Uranus gab es in den Jahren nach der “Entdeckung der Heinrich Events” (Wally Broecker taufte diese Events so) eine Schwemme von Messungen , Analysen, Modellstudien, häufig an genau dem gleichen Material, das schon immer in den Vorratskammern der Ozeanographen lagerte und mit den gleichen Mitteln, die sie schon immer zur Analyse benutzt haben. Nur jetzt “sahen” sie eben die Heinrich events. Der Aussenseiter Heinrich selbst hat meines Wissens nach nicht weiter an der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas und an der “normalen” Wissenschaft nach dem Paradigmenwechsel teilgenommen.
PPS Eine Formulierung bzgl der Phlogiston Theorie wurde im Vergleich zum Originaltext leicht geändert und hoffentlich etwas klarer formuliert.
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