Ein rundes Jubiläum für das vielleicht wichtigste und bekannteste Werk der Soziologie des Wissen. Vor genau 50 Jahren veröffentlichte der amerikanische Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn die “Struktur wissenschaftlicher Revolutionen”. Ich will mal versuchen die entscheidenden Gedanken dieser ungeheuer dichten und für ein Soziologiewerk wunderschön geschriebenen ca. 200 Seiten kurz und bündig so zusammenzufassen: Kuhn analysiert die Vorraussetzungen und Strukturen wissenschaftlichen Arbeitens. In dieser soziologisch-historischen Analyse arbeitet er als zentralen Begriff die Paradigmata wissenschaftlichen Handelns heraus. Obwohl dies sicher der zentrale Begriff in seiner Arbeit ist, bleibt dieser Begriff im Buch selbst eigenartig undefiniert und Kuhn hat sich eher in Schriften danach genauer dazu geäussert, was das eigentlich ist, diese Paradigmata. Nach Wiki hat er insgesamt 34 Definitionsversuche unternommen und schliesslich aufgegeben. Das halt mich natürlich nicht ab:
Paradigmata wissenschaftlichen Arbeitens sind der gesamte Satz an Vorstellungen/Ideen/Mustern/Beispielen, die einer Gruppe von Wissenschaftlern zu einer Zeit gemein ist. Paradigmata bestimmen nicht nur die Interpretationen/Theorien zu den untersuchten wissenschaftlichen Fakten, sondern sie bestimmen auch, was überhaupt ein Fakt ist.
Es handelt sich also um eine Art stillschweigendes Wissen, was selten oder nie voll ausformuliert wird, eben weil es häufig nicht wirklich bewusst in den Köpfen der Wissenschaftler vorhanden ist. Das ist grösztenteils auch gar nicht möglich. Wie soll ein Ptolomäiker auch anders über die Erde sprechen und denken, als eben über den zentralen, festen Punkt des Universums? Es ist ihm schlicht unmöglich einfach mal eine andere Position anzunehmen, die Erde etwa als Planet zu betrachten, weil das eben per definition nicht mehr das gleiche Objekt “Erde” wäre, von dem dann da gesprochen würde.
Kuhn’s Beispiele oder Analogien für diese wissenschaftlichen Paradigmata kommen daher unter anderem aus der Gestaltpsychologie: Irgendwo zwischen dem ursprünglichen Reiz beim Betrachten und einer vollen bewussten Interpretation, dort befinden sich die Paradigmata. Der Wissenschaftler “sieht” eben in einer Nebelkammer alpha-Teilchen, wo der Laie erstmal nur ein Gewirr von Kreisen und Linien wahrnimmt. Ein Ptolomäiker hat eben beim Betrachten des Mondes einen Planeten gesehen. Ein Aristoteliker hat eben beim Betrachten des Pendels wirklich einen gebremsten Fall gesehen (und eben nicht eine potentiell unendliche, periodische Bewegung wie Galilei). Die Paradigmata filtern unsichtbar im Kopf des Wissenschaftlers, was überhaupt wahrgenommen werden kann, was in wissenschaftliches Ergebnis und was in störenden, unbeachteten Noise getrennt wird.
Vexierbild – Charles Allan Gilbert: All is Vanity
Gerade in der Astronomie ist dieser gestaltpsychologische Aspekt besonders deutlich. Was “sieht” der Wissenschaftler, wenn er/sie mit ein und demselben Instrument dasselbe Objekt am Sternenhimmel betrachtet? Was erlaubt ihm seine Paradigma überhaupt als Fakt wahrzunehmen? Sir William Herschel gilt allgemein als der Entdecker des Uranus. Es ist jedoch gut dokumentiert, dass in Wirklichkeit in den 50 Jahren vor Herschels “Entdeckung” der Uranus bereits 17 Mal beobachtet (i.e. “durch ein Teleskop betrachtet”) und natürlich einen Stern “gesehen” wurde. Erst als Herschel bei genauerer Betrachtung und mit einem besseren Teleskop ausgestattet einen Durchmesser dieses Objekts meinte zu erkennen, was für einen Fixstern ja an sich nicht möglich ist, schaute er sich diesen “Stern” etwas genauer an und fand schliesslich eine Bewegung relativ zum Fixsternhimmel. Sofort schloss er also auf ….. einen Kometen. Denn das war es, was das damaligen Paradigma der Himmelsbeobachtung den Forschern anbot: Fixsterne und Kometen. Und kaum hatte sich nun den Astronomen diese vergeichsweise geringfügige Paradigmen-Veränderung angeboten, “sahen” sie kurz nach Herschel plötzlich eine Vielzahl von kleinen Planeten und Asteroiden mit grösztenteils denselben Instrumenten wie in der Vor-Herschel-Zeit. Und das, obwohl diese Objekte meist zu klein waren, um einen Durchmesser wie beim Uranus erkennen zu können. Ihre Erwartungen, ihr Paradigma hatte sich geändert und plötzlich schauten sie mit “anderen Augen” auf die vermeintlich gleichen Fakten. Das Vexierbild, das sich beim Betrachten der wissenschaftlichen “Tasachen” einstellte ist gewissermaszen umgesprungen. Wo sie vorher einen Totenschädel erkannten, sahen sie nun eine sich schminkende Frau, die sich im Spiegel betrachtete (siehe oben).
Video: Paradigm Shifts mit Gummibärchen.
Der Übergang zum Galileischen oder Newtonschen Weltbild ist dann auch nicht wirklich dadurch gegeben, dass einige neue Messungen irgendwo dazukamen, ein paar Gleichungen nun erfolgreicher gelöst wurden, sondern dass innerhalb dieser meist kleinen Gruppe an Wissenschaftlern eine völlig andere Sicht auf den entsprechenden Teil der Natur entsteht. Dieselben Dinge, Wahrnehmungen und Messungen ändern ihren Ort, ihre Bedeutung und ihre Wichtigkeit. Was zuvor im “alten System” ein nicht richtig verstandenes Detail war, mag im Rahmen der neuen Paradigmata ein zentrales Phänomen werden und umgekehrt.
Doch warum änderten denn nun die Wissenschaftler ihre Paradigmata? Warum vollzogen sie den berühmten “Paradigmenwechsel” ? Dieser Ausdruck ist in der Tat von Thomas Kuhn und zur Beschreibung von “dramatischen”, er nennt es, “revolutionären” Änderungen des System, innerhalb dessen Wissenschaftler arbeiten, entwickelt worden. Heute wird der Ausdruck “Paradigmenwechsel” allerdings für so gut wie alles gebraucht (Margarine statt Butter – ein Paradigmenwechsel).
War denn tatsächlich im neuen “System” alles sofort besser, klarer und genauer zu berechnen? Sind diese wissenschaftlichen Paradigmenwechsel wirklich so logisch und zwingend, wie sie es im Nachhinein scheinen? Wer wäre nicht sofort bereit zu glauben, dass ein Wechsel zum Newtonschen oder Kopernikanischen Paradigma für die Zeitgenossen ein offensichtlicher Gewinn war. Weit gefehlt und – recht betrachtet – ist das auch kaum zu erwarten. Meist übersteigt die Anzahl der ungelösten Probleme in der Wissenschaft weit das, was ein selbst voll ausgearbeitetes Paradigma zu lösen in der Lage ist. Immer gibt es unzählige Problem und Rätsel (Kuhn nennt sie “puzzles”), die ungelöst der Bearbeitung harren. Gerade ein neuer und daher noch roher Satz an Paradigmata, in dem bislang noch kaum ein Wissenschaftler gearbeitet hat, kann gar nicht sofort besser sein als das alte System, an dem vielleicht hunderte von Wissenschaftlern bereits Dekaden oder gar Jahrhundert gearbeitet haben. Was also führt zum Paradigmenwechsel?
1) Dem Wechsel geht eine Zeit der Krise voraus, in dem mehr und mehr Wissenschaftler ihr Unbehagen, ja Verzweifelung ausdrücken, dass es mit einer Reihe von Probleme (Kuhn nennt sie Anomalien) nicht weitergeht. Es entsteht ein allgemeines Gefühl der Ohnmacht und Ratlosigkeit. So schrieb Einstein etwa zur Krise, die sich vor der Formulierung der Quantenmechanik, allgemein breitgemacht hatte:” Es war, wie wenn einem der Boden unter den Füszen weggezogen worden wäre, ohne dasz sich irgendwo fester Grund zeigte, auf dem man hätte bauen können”. Oder Pauli, der ja nun deutlich näher dran war, schrieb kurz vor der Heisenbergschen Formulierung der Martizenmechanik: “Zur Zeit ist die Physik mal wieder furchtbar durcheinander. Auf jeden Fall ist sie für mich zu schwierig und ich wünschte, ich wäre Filmschauspieler oder etwas Ähnliches und hätte von der Physik nie etwas gehört.” Sicher ein bemerkenswerter Satz aus dem Mund Paulis, dem es ja nun wahrlich nicht an Selbstbewusstsein mangelte.
2) Doch dieses Gefühl der Krise ist sicher nicht genug. Es bedarf mehr. Die “Neuerer” sind häufig jung oder doch zumindest in der jeweiligen Domäne Neulinge. Sie haben meist kein Lebenswerk innerhalb des alten wissenschaftlichen Paradigmas geschaffen und haben eben nicht das alte Paradigma völlig verinnerlicht.
3) Es gibt eine ganze Reihe von eher typischen Merkmalen, was das neue Paradigma, welches von den Neuerern vorgeschlagen wurde, leisten sollte. Keines ist wirklich zwingend notwendig. Jede wissenschaftliche Revolution folgt teils individuellen Regeln und einer ganz eigenen Dynamik. Trotzdem kann man Gemeinsamkeiten finden. So sollten zumindest die “anomalen”, die Krise verursachenden Phänomene durch das neue Paradigma erklärt werden können. Aber Obacht! Meist hat das alte System durchaus irgendeine Erklärung für die Anomalien parat und meist gibt es eine Reihe von Phänomenen, die das alte Paradigma vorzüglich erklärte und das neue eben nicht. Der Gewinn und Fortschritt, der durch ein neues Paradigma erbracht wird, scheint häufig erst im Nachhinein offensichtlich. Lavoisier musste sich zu seiner Zeit gegen die sehr populäre Phlogiston Theorie der Verbrennung durchsetzen. Für sie sprach im Wesentlichen, dass Lavoisier und andere zeigen konnten, dass die Verbrennung eines Stoffes einen Bestandteil der Luft, Sauerstoff nämlich, braucht und dem ursprünglichen Stoff hinzufügt. Das Resultat der Verbrennung ist natürlich schwerer als der Ausgangsstoff. Nach der Phlogiston Theorie müsste aber umgekehrt aus ihm ein Stoff, das Phlogiston, entweicht sein, weswegen etwa über eine negative Masse des Phlogiston spekuliert wurde. Aber so viele andere Phänomene, die die Phlogiston Theorie zufriedenstellend beantworten konnte, z.B. die ganz ähnlichen Eigenschaften von Metallen – alle randvoll mit Phlogiston und daher sich ähnlich – blieben gänzlich unerklärt durch die neue Theorie vom Sauerstoff. Ein objektiver Beobachter hätte sich vielleicht auch gegen die neue Chemie wenden können, da man sich mehr Probleme einhandelte als wirklich gelöst wurden. Ähnliches gilt vielleicht auch für die Einführung der Quantenmechanik.
4) Das neue Paradigma erlaubt präzisere, quantitative Berechnungen. Auch hier gilt Vorsicht. Kopernikus versprach zwar eine deutlich präzisere Berechnung des Kalenderjahrs, eine deutlich bessere Berechnung der Planetenpositionen etc.. Aber all das gab es erst mit Keplers Rudolfinischen Tabellen 60 Jahre später. Hurra-Siege eines neuen Pardigmas durch schlicht unschlagbar bessere Ergebnisse sind rar.
5) Das neue Paradigma strahlt eine unwiderstehliche Ästhetik aus, es ist schlicht “schöner”. An sich kein schlechter Punkt aber in so einem nüchternen Unterfangen wie der Wissenschaft niemals ausreichend. Trotzdem spielt dieser Punkt bisweilen eine grosze Rolle. So strahlte Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie von Anfang an eine grosze Anziehung auf den mathematisch geschulten Teil der Physiker aus, obwohl weder wirklich eine Krisensituation in der Wissenschaft bzgl. der von Einstein “gelösten” Fragen herrschte, noch überhaupt eine Erklärung irgendeines beobachtbaren Phänomens in Sicht war. Einstein war selber höchst überrascht, als er tatsächlich und gegen seine Erwartungen die Präzession des Merkur-Perihels quantitativ erklären konnte.
6) Die Voraussage bisher noch unbeobachteter Phänomene. Das kann ein sehr starkes Argument für ein neues Paradigma werden. Kopernikus behandelte Venus und Merkur etc. genau wie die Erde als Planeten. Sie sollten daher Phasen zeigen, die dann aber erst Jahrzehnte später nach dem Bau der ersten Teleskope auch tatsächlich beobachtet wurden. Diese Entdeckung brachte der Kopernikanischen Theorie sehr viele “Konvertiten” ein. Ähnliches lässt sich auch vom obigen Beispiel der Merkur Präzession und der Ackzeptanz der ART sagen.
7) Schliesslich und nicht zu verachten, eine lange Liste von gänzlich ausserhalb der Wissenschaft gelegenen Gründen und Motivationen, die zur Konversion zum neuen Paradigma beitragen können. Für Johannes Kepler war seine heute recht mystisch daherkommende Sonnenverehrung ein entscheidender Punkt , um zum Kopernikaner zu werden. Ganze Nationen “kippten” um, wenn erstmal auch einer ihrer führenden Wissenschaftler bislang kritisch betrachtete Paradigmata übernahm und ackzeptierte. So schwenkte etwa die Wissenschaft in Frankreich zu Beginn des 19ten Jahrhunderts erst dann zur Huygenschen Wellentheorie des Lichts um, nachdem Fresnel seine spektakulären Interferenzexperimente den bereits bestehenden Belegen für den Wellencharakter des Lichts hinzugefügt hatte.
Video: Erläuterung von Kuhns “Scientific Revolutions” in Englisch.
Ist erst solch ein Paradigmenwechsel vollzogen, haben sich die “neuen” Sichtweisen und Konzepte verfestigt und sind somit zu alten geworden, dann kann wieder der Betrieb der “normalen” Wissenschaft aufgenommen werden. Es ist wieder klar was überhaupt eine wissenschaftliche Frage ist und was zur Untersuchung einer solchen Frage überhaupt verwendbare Begriffe sind. Durch die Revolution Lavoisiers etwa wurde die Frage nach dem, was die Metalle den nun gemeinsam haben, schlicht aus der Chemie der Zeit verbannt, während sie zuvor im Rahmen des Phlogiston-Paradigmas nicht nur gestellt, sondern vermeintlich auch so so elegant beantwortet wurde. Dieser Betrieb der “normalen” Wissenschaft besteht nun eben im Kuhnschen Rätsellösen und ist gekennzeichnet durch ein Gefühl des Fortschritts. Wissenschaftler, die im alten Paradigma verharren, mögen einige Zeit nach einem Paradigmenwechsel nur noch als Esoteriker oder “Philosophen” gelten, aber sie hören praktisch per definition auf, noch Wissenschaftler zu sein.
Kuhn ist natürlich auch stark kritisiert worden (etwa hier von Steven Weinberg), insbesondere für seine Betonung der vollständigen Inkomensurabilität verschiedener Paradigmata. So spricht Kuhn etwa von einer anderen Welt, in der die Wissenschaftler vor und nach einem Wechsel der wissenschaftlichen Paradigmata leben, und betont sehr die Unmöglichkeit eines direkten und auf wirklich rationalen Argumenten basierenden Austauschs zwischen Wissenschaftlern, die in verschiedenen Paradigmen operieren. Die Entscheidung zwischen dem alten und dem neuen Paradigma wird bei Kuhn zu einem fast religiösen Akt.
“Derjenige, der ein neues Paradigma in einem frühen Stadium annimmt, musz das oft entgegen den durch Problemlösungen gelieferten Beweisen tun. Das heiszt, er musz den Glauben haben, dasz das neue Paradigma mit den vielen groszen Problemen, mit denen es konfrontiert ist, fertig warden kann, wobei er nur weisz, dasz das alte Paradigma bei einigen versagt hat. Eine Entscheidung dieser Art kann nur aufgrund eines Glaubens getroffen werden“.
Ich selbst habe dieses Buch vor etwa 25 Jahren (Darum ist eine eigene Bücherei so wichtig. Ich habe sogar meine “Die drei Fragezeichen” Bücher irgendwo aufbewahrt.) das erste Mal in der deutschen Suhrkamp Ausgabe gelesen und habe es jetzt angesichts des runden Jubiläums ein zweites Mal gelesen. Es ist eines dieser Werke, von denen man so gerne sagt, dass es ein Vorher und ein Nachher gab, als wenn es bei all den anderen nicht ganz so epochalen Werken kein Vorher und Nachher gibt, aber ihr wisst schon wie das gemeint ist. Vorher war vielen und gerade Naturwissenschaftlern selber, einfach nicht klar, in welcher Weise ihre Tätigkeit eben auch ein sozialer und historischer Prozess ist, dessen Dynamik so unglaublich wenig mit der glatten, logischen Darstellung der Lehrbücher zu tun hat. Es gibt wohl kein Teil des sozialen Lebens und mit Sicherheit der Wissenschaft im Allgemeinen, die derart unhistorisch, ja geradezu amnesisch ihre eigene Vergangenheit verwaltet, wie es die Naturwissenschaften tun. Die typische Ausbildung eines Physikers, Chemikers oder Biologen ist geradezu zentral darauf ausgerichtet, den “Tatsachen” des jeweilgen Fachs ihre Geschichtlichkeit zu nehmen. Die Namen der Heroen der Wissenschaft werden wie dekoratives Ziehrwerk auf die verschiedenen Seiten eines typischen naturwissenschaftlichen Lehrbuchs verteilt und der Eindruck erweckt, dass meinethalben erst Korpernikus Tatsache A herausfand, Galilei Tatsache B, Newton dann Punkt C und schliesslich Einstein Fakt D. Kraft dieses akkumulativen Wirkens von Menschen, die alle mehr oder minder an der gleichen Sache mit den grundsätzlich gleichen Konzepten arbeiteten, wurde – so lässt einen implizit praktisch jedes Lehrbuch wissen – Stein um Stein das heutige Wissensgebäude aufgebaut. Das ist gut und effizient für die Ausbildung zum Physiker/Chemiker/Biologen, aber es stimmt einfach nicht.
Von der ersten Lektüre von Kuhns Essay erinnere ich in erster Linie genau diesen ganz persönlichen Schock: Wissenschaft funktioniert nicht so, wie es all diese Lehrbücher suggerieren. Es ist eben kein Prozess, in dem Stein um Stein das herrliche Gebäude der Wissenschaft errichtet wird und in dem Galileo etwas zum Wissen Kopernikus’ hinzugefügt hat und Newton dann eben etwas zum Wissen Galileo’s, undsoweiter. Kuhn sieht gerade in diesen groszen Beiträgen radikale Umschwünge, in der sich quasi eine neue Wissenschaft selbst erfindet. Ja er er geht sogar einen Schritt weiter.
Was unterscheidet eigentlich vom Systematischen her betrachtet die Wissenschaft von meinethalben den Künsten oder den Geschichtswissenschaften? Es ist nach Kuhn genau diese zwingende Abfolge vom Rätsellösen innerhalb eines Paradigmas durch die “normale” Wissenschaft und der zwingend irgendwann auftauchende Umbruch durch ein neues Paradigma. Oder anders ausgedrückt: Es ist Wissenschaft, wenn es Fortschritt im Sinne dieser Abfolge der Ereignisse gibt, und wenn es solch eine Art von Fortschritt gibt, dann ist es auch Wissenschaft.
Hätte ich einen Wunsch frei, um einen einmaligen Einfluss auf die Ausbildung zukünftiger Biologen, Physiker und Chemiker zu nehmen, dann wäre es die Pflichtlektüre eines jeden Studenten der Naturwissenschaften von Thomas Samuel Kuhns “The structure of scientific revolutions”.
PS Ein paar aktualisierte oder persöniche Überlegungen zu Kuhns Buch aus der Sicht der Klimawissenschaften. Auch wenn die meisten Beispiele hier die ganz groszen und berühmten Umbrüche der Naturwissenschaften betreffen, so sagt Kuhn doch ganz eindeutig, dass seine Überlegungen auch für die vielen kleinen Spezialgebiete der Wissenschaft und für die vielen kleinen revolutionen gelten. Ich war zu Beginn meines Studiums fast live bei einem fast archetypischen Kuhnschen Paradigmawechsel dabei. Er ereignete sich auf dem Gebiet der Paleoklimatologie. Vor fast 20 Jahren (aechz, solange bin ich schon dabei) hatte sich die sogenannte Milankovitch Theorie zur Erklärung der Eiszeiten während des Quartärs endlich durchgesetzt. Die entscheidenden Arbeiten stammten aus den 70ern, etwa von Leuten wie John Imbrie, James Hays und Nick Shackleton, denen es gelungen war, die sogenannten Milankovitch Zyklen von ca. 20, 40 und 100 Kilo-Jahren in einer Vielzahl von marinen Sedimentkernen zu identifizieren und ein konsistentes Bild zu zeichnen, wie diese Zyklen sich geographisch und zeitlich versetzt in den verschiedenen Regionen niederschlagen. Die Zyklen selbst sind Konsequenz der sich stetig ändernden Position der Erde auf ihrer Bahn um die Sonne (Details hier ). Jedenfalls stand “Milankovitch” für das gemäsz Kuhn herrschende Paradigma der Paleoklimatologen zu der Zeit, als ich mit den Klimawissenschaften anfing, und ist es natürlich immer noch, allerdings in leicht veränderter Form, wie wir gleich sehen werden.
Man könnte das entsprechende Paradigma der damaligen Zeit so formulieren: Alle Variabilität, die sich in marinen Sediment-Kernen in den verschiedenen Proxies finden lässt, ist entweder assoziiert zu den entsprechenden Milankovitch Zyklen oder eben Noise, der durch alles mögliche verursacht werden kann (Bioturbation, Datierungsprobleme, Messfehler). Bis dann Hartmut Heinrich daherkam, mariner Geologe, der am Deutschen Hydrographischen Institut arbeitete. Seine Aufgabe in dieser Behörde war es, Stellen im Atlantik zu finden, die eine sehr hohe Sedimentationsrate haben und die sich potentiell dazu eigneten, hochgiftigen Abfall fix loszuwerden. Die Sedimentkerne, die er zog, wurden also in erster Linie zur Abfallbeseitigung und zum Zwecke der Sedimentationsraten-bestimmung gezogen. Bei der Analyse fiel ihm auf, dass es in den Kernen, die einen Teil der letzten Eiszeit überdeckten, schnelle und drastische Variationen in der petrologischen Zusammensetzung gab und schloss darauf, dass wohl ab und an Eisberge über die jeweilige Stelle im Atlantil sausten und diesen steinigen Balast abwarfen. Warum nicht veröffentlichen, wenn man schon mal dabei ist, selbst wenn es ihm bei seiner eigentlichen Arbeit nicht unbedingt weiterhalf? Die Arbeit erschien im eher unscheinbaren Quaternary Research, an sich nicht schlecht, ein Paper dort kann aber durchaus mal völlig vergessen werden.
Wurde es aber nicht. Einer der Titanen der Paleoklimatologie, Wallace Broecker, damals Chef des Lamont-Doherty Laboratoriums entdeckte das Paper und rief Heinrich an. Ob er sich denn wirklich sicher sei? Wenige Wochen später schickte Lamont ein ganzes Team nach Hamburg. Sie wollten mit eigenen Augen “sehen”, dass da tatsächlich in der Sedimentzusammensetzung von zumindest einigen Kernen in IHREM Nordatlantik organisierte und anscheinend nicht gerade kleine Mengen von Eisberg-Markern zu finden sind. Und sie wollten vor allem die Bestätigung haben, dass da Klimavariabilität jenseits der Milankovitch Zyklen stattfindet. Nachdem sie sich in Hamburg davon überzeugt hatten, dass Heinrich alles korrekt gemessen und interpretiert hatte, kehrten sie immer noch verblüfft zu sich nach New York in das weltweit gröszte Sedimentkernlager mit 1000enden von gelagerten Kernen zurück. Und siehe da, sie waren immer schon da, die Heinrich Events. Die New Yorker Paleo-ozeanographen hatten die gleichen Signale immer schon vor Augen gehabt, wenn sie ihre Kerne auf der Suche nach Milankovitch Zyklen durchforsteten, aber sie haben sie einfach nicht wahrgenommen. Ein perfektes Beispiel für einen Kuhnschen Paradigmenwechsel (es gibt also grossräumige Klimavariabilität unterhalb der Milankovitch Zyklen) und seiner Analogie mit einem Vexierbild. Und genau wie in dem Beispiel oben mit Herschels Entdeckung des Uranus gab es in den Jahren nach der “Entdeckung der Heinrich Events” (Wally Broecker taufte diese Events so) eine Schwemme von Messungen , Analysen, Modellstudien, häufig an genau dem gleichen Material, das schon immer in den Vorratskammern der Ozeanographen lagerte und mit den gleichen Mitteln, die sie schon immer zur Analyse benutzt haben. Nur jetzt “sahen” sie eben die Heinrich events. Der Aussenseiter Heinrich selbst hat meines Wissens nach nicht weiter an der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas und an der “normalen” Wissenschaft nach dem Paradigmenwechsel teilgenommen.
PPS Eine Formulierung bzgl der Phlogiston Theorie wurde im Vergleich zum Originaltext leicht geändert und hoffentlich etwas klarer formuliert.
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