Der Titel “Stehen und Gehen” dieses kurzen, verspäteten Osterbeitrags ist von der Habilitationsschrift (sehr empfehlenswert!) der Konstanzer Literaturwissenschaftlerein Ulrike Sprenger gestohlen. “Stehen und Gehen” trifft sehr gut die besondere Art der Sevillaner Karprozessionen, an der ungebrochen von der auch im katholischen Spanien zurückgehenden Religiosität fast die ganze Bevölkerung teilnimmt. An jedem Tag der Karwoche, also vom Palmsonntag bis Ostersonntag, schlängeln sich per “Stehen und Gehen” die österlichen Prozessionszüge, jeder einige hundert Meter lang, durch die Altstadt Sevillas. Da ich in der vergangenen Woche fast nichts anderes getan habe, als die Pasos der verschiedenen Bruderschaften anzuschauen und Ihnen durch das Labyrinth der Gassen Sevillas zu folgen, hier vielleicht ein paar Informationen rund um die Semana Santa, die dem einen oder anderen Lust machen mögen, das “wirkliche Spanien” zu besuchen und nicht seine Zeit an den öden Stränden zu verplempern. Die Semana Santa in Sevilla ist es bestimmt wert.
Bild 1: Francisco de Goya 1812 – procesion de flagelantes, damals noch mit den hermandades de sangre. Der Perückenträger ist der capataz des paso und dirigiert die costaleros.”Goyas Blick zeigt uns die Karprozession als einen Karnevl der Gewalt: Entgegen der kirchlich intendierten Bedeutung erscheint die tätige Buße nicht als Station auf dem Weg zur Erlösung, nicht als Bekräftigung eines Opfers in Aussicht auf Erneuerung und Erlösung, sondern als Bebilderung einer ausweglosen conditio humana” Ulrike Sprenger in “Stehen und Gehen”.
Die Pasos bezeichnen sowohl die Karprozessionen im Allgemeinen als auch im eigentlichen Sinne die reichverzierten Bildnisse (ich finde dafür einfach keine gute Übersetzung, pasos eben), die innerhalb der Prozession durch die Stadt getragen werden und die meist Szenen aus der letzten Woche Jesus Christus darstellen: Der Judaskuss, die Anklage vor Pilatus, der Gang mit dem Kreuz, das Herunterhohlen des leblosen Körpers. Die Tradition der Pasos besteht im Wesentlichen seit dem siglo de oro, welches die Blütezeit spanischer Macht und Kultur zwischen dem 15ten bis 17ten Jahrhundert umfasst. Die Tradition der Penitencias und der Pasos wird hier in Sevilla von den hermandades oder auch cofradias (Bruderschaften) getragen, die als religiöse Laienorganisationen über ungefähr 150.000 Mitglieder verfügen, was ja bei einer Gesamtbevölkerung von ca.700.000 Menschen nicht wenig ist. Das Resultat, so wie es sich letzte Woche in den Strassen Sevillas zeigte, ist wahrlich verwirrend in seiner atavistischen Schönheit und seiner quirrligen Morbidität. Im Grund nimmt die gesamte Bevölkerung Sevillas an einem Gesamtkunstwerk bestehend aus barrocker Bilderfülle, Musik, Gerüchen (fast die ganze Stadt riecht nach Weihrauch), ja selbst Geschmacksrichtungen (es gibt eine ganze Reihe Gebäcke, die nur in der Osterwoche hergestellt werden) teil. Jeder heutige Performancekünstler wäre glücklich solche Effekte und Pointen zu setzen, eine solche Emotion des wirklich teilnehmenden Publikums zu erzeugen, wie sie die Pasos bei ihrem Weg durch die Sevillaner Innenstadt hervorrufen.
Bild 2: Nazareno auf dem Weg zu seiner hermandad. Nur dort darf man die Kapuzen (capirote) abnehmen, um das öffentliche Büssen anonym zu belassen. Nach 14 Stunden “Stehen und Gehen” findet sich dann aber doch der/die Eine oder Andere, der in einer Bar die Capirote abnimmt, um einen Kaffee zu trinken.
Die ersten Prozessionen im 15ten und frühen 16ten Jahrhundert wurden als imitatio Christi, also als ein Nachleben des Leiden Christi bei seinem Weg zum Berg Golgatha, längst eines damals quer durch die Stadt angelegten via crucis durchgeführt. Dabei fanden sie keineswegs nur in der Karwoche, sondern praktisch zu jedem Zeitpunkt, insbesondere Anfang November am dia de todos los santos, statt. Erst später konzentrierten sich dann die Prozessionen auf die Karwoche in der stark kodifizierten und geregelten Form, in der diese heute organisiert werden. Das in der Zeit des renascimientos aufkommende, selbstbewusstere Bürgertum forderte von der Kirche einen selbständigeren Anteil am religiösen Kult, was zu steten Spannungen zwischen der offiziellen Kirche und den hermandades führte, die in vieler Hinsicht bis auf den heutigen Tag existieren. Wann etwa die pasos ihre Kirchen verlassen dürfen, wird in einem permanenten und mit unzähligen Gesetzen und Regeln gepflasterten Machtkampf zwischen dem Sevillaner Erzbischof und der junta de cofrades entschieden. Allein dieses Thema füllt jeden Tag einen Teil des hiesigen Lokalblatts, des diario de Sevilla. Wenn also auch aus heutiger Sicht die Prozessionen aussehen, wie eine kirchliche Veranstaltung, waren sie eher im Gegenteil so etwas wie wild organisierte Laienreligion auf der Strasse, auf die die Amtskirche stets ein misstrauisches Auge warf.
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