Jetzt wird man sich fragen, warum erzählt der Georg das alles? Das schert doch heute sicher keinen mehr, ob im 17ten/18ten Jhd. Teile des katalonischen Adels eher den Habsburgern oder den Bourbonen zuneigten. Und doch, genau so will es der nationale Wahn. Es gehört nämlich geradezu zum konstituierenden Element des durchdrehenden Nationalismus, sich irgendwelche historischen Ereignisse herzuhohlen und sie im gewünschten Sinne zu interpretieren: mit Opfern, einer unterdrückten Nation, dem vergossenen Blut, der immer schon kulturellen Andersartigkeit und was da sonst noch alles im Setzbaukasten des Nationalisten stecken mag. Man erinnere sich an das Geschlachte auf dem Balkan in den 1990er Jahren, was doch unter anderem allen Ernstes mit der Schlacht auf dem Amselfeld, 1448, begründet wurde . Die Schotten haben bekanntlich William Wallace und die Russen wissen ja selbstverständlich, dass Katherina die Grosse (i.e. Sophia von Anhalt-Zerbst ) die Krim für Russland erobert habe. Na, und die Katalanen haben halt 1714.
Der katalanische Feiertag ist die Diada und wird jedes Jahr am 11.9. begangen. Jede Region in Spanien hat das Recht einen Feiertag herauszupicken. Irgendwas nettes aus der Vergangenheit. Gerne auch der Geburts- oder Sterbetag eines regionalen Heiligen. Man bleibt dann länger im Bett liegen und trinkt zum Mittagessen ein Bier zuviel. Nicht so in Catalunya. In den letzten Jahren wird am Tag der Diada so ziemlich alles mobilisiert, was nationales Pathos so hervorbringen kann: Kranzniederlegung für die Opfer der Belagerung Barcelonas 1714, Menschenketten, Massenaufmärsche. Kranzniederlegungen für die Belagerung von 1714: Das muss man sich mal vorstellen! Schon der erste Weltkrieg ist heute soweit historisiert, dass kaum noch jemand sich zu irgendeiner Gedächtnisveranstaltung hinschleppen mag, selbst Politiker nicht. Aber Katalonien gedenkt allen Ernstes der gefallenen Söhne und Töchter einer eher zweitrangigen Schlacht im Rahmen eines Ringens zwischen Habsburgern und Bourbonen und um 17:14 Uhr stehen dann tatsächlich alle Maschinen still und es wird eine regionalweite Schweigeminute eingelenkt.
Nach Auskunft der Veranstalter bildeten 1.8 Millionen Menschen ein riesiges V in den Strassen Barcelonas, Symbol der Forderung endlich über ihre Freiheit abstimmen zu können. Sie haben sich also alle entweder ein rotes oder gelbes T-Shirt angezogen und sich dann stundenlang in die Mittelmeersonne gestellt, damit ein Hubschrauber diese Fotos (siehe Bild 1) machen kann. In der Großregion Barcelona leben insgesamt 3.6 Millionen Einwohner, was bedeutet, wenn denn die Zahlen ungefähr stimmen, dass sich praktisch jeder, der sich überhaupt irgendwie ins Zentrum der Stadt schleppen konnte, das auch tatsächlich getan hat. Gebt uns endlich Freiheit! Und dieser verzweifelte millionenfache Schrei erschallt also nicht etwa in Tibet, in Kurdistan oder meinethalben im Donezk-Becken (alles Beispiele, bei denen die Zentralmacht ganz kräftig ausgeteilt hat, um Unabhängigkeitsbestrebungen zu deckeln), sondern im politisch doch eher gemütlich zwischen Sozialdemokratie und Konservativen hin- und heroszillierendem Spanien. Als müssten sie die tausenden weggesperrten und gefolterten katalanischen Unabhängigkeitskämpfer befreien, die da in spanischen Kerkern vor sich hinrotten. Eine groteskes Missverhältnis zwischen emotionalem Aufruhr und dem eigentlichen Agieren des “spanischen Okupators”.
Doch die Liste der Absurditäten ist noch viel länger. Bei jeder Gelegenheit betont die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, dass sie ein freies Katalonien in Europa wollen. Andererseits ist das ökonomische Hauptargument stets: España nos roba! Spanien bestiehlt uns. Will heissen, dass der spanische Länderfinanzausgleich der Region Katalonien stets zu wenig von den katalanischen Steuereinnahmen zurückgebe. Mit anderen Worten, sie beklagen sich, dass Geld aus dem ökonomisch starken Katalonien in ärmere Regionen innerhalb Spaniens fliesse. Mal von der lebhaften Diskussion abgesehen, ob das überhaupt stimmt: Feel the Irony! Das endlich freie Katalonien möchte in die Europäische Gemeinschaft eintreten, damit sie nicht mehr den eigenen Wohlstand mit ökonomischen schwächeren Regionen teilen müssen. Welcome in Europe!
Noch besser: Selbst die katalanische Linke macht bei dieser “Jeder für sich und für uns das Meiste!” Politik mit. Irgendwann soll ja die international Solidarität ein Markenzeichen der Linken gewesen sein. Jetzt aber gibt es eben mal wieder keine Parteien mehr, sondern nur noch Katalanen. Die Unterschiede zwischen den politischen Programmen der konservativ-wirtschaftliberalen CIU in Katalonien und ihrem restspanischen Gegenstück, der PP, sind marginal. Längst hätten sie ineinander übergehen oder doch zumindest permanent koalieren müssen. Der einzige Unterschied ist die Frage der nationalen Unabhängigkeit Kataloniens. Der Wegfall des Politischen ist ein weiteres sicheres Kennzeichen der Auswirkungen des nationalen Wahns.
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