Warum erwähne ich das Buch also überhaupt? Nun, zum einen ist meine Kritik natürlich ein bisschen ungerecht. Dass ich gerne ein interessanteres Buch mit einem anderen Thema gelesen hätte, ist ja nicht Gerstes Schuld. Ausserdem bleiben da doch eine ganze Reihe Anekdoten der Weltgeschichte, die ich zumindest noch nicht kannte. Und man soll ja dankbar sein. Vor allem aber erfuhr ich von Gerste, dass die LP, zu der ich einst meine Unschuld verlor, Al Stewarts “Year of the Cat”, als zweiten Song mit “Lord Grenville” den englischen Kommandanten würdigte, der sich 1591 allein mit seinem Schiff auf die halbe spanische Armada gestürzt hatte. Wer hätte das gedacht? Jene Nacht erscheint mir nun in einem ganz anderen Licht.

kolbert

Elizabeth Kolbert “The sixth extinction”

Leben wir mitten im größten Artensterben seit es diesen Planeten gibt? Und wenn das tatsächlich stimmt und wenn, was tatsächlich ausser Frage steht, der Mensch dieses Artensterben verursacht, was kann man noch tun, um diesen rasant ablaufenden Prozess zu stoppen, an dessen Ende in den Ozeanen nur noch Mollusken leben und auf den Kontinenten Ratten und Tauben die Artenvielfalt repräsentieren. Die freie Journalistin Elizabeth Kolbert arbeitete häufig für die NYT und den NewYorker. Ihre Artikelserie zum Klimawandel kam 2006 unter dem Titel “Fieldnotes from a catastrophe: Nature, Man and climate change” heraus und war, soweit ich mich erinnere das erste Wissenbuch zum Klimawandel, welches ich gelesen habe. Kolbert hat das Geld, das Sie mit diesem Erfolgsbuch gemacht hat, dazu genutzt, sich auf eine ähnliche Reise zu wie einst Douglas Adams in seinem Klassiker: “Last chance to see”. Sie reiste zu Orten, an denen heute zur schwindenden Artenvielfalt geforscht wird: Mal ganz prosaisch zur Yale Universität, um sich über das grosze Artensterben am Ende des Perm vor 252 Mill.Jahren zu informieren (möglicherweise das Artensterben von den Big Five, dessen Ursachen wir am wenigsten verstehen), mal in den Amazonasdschungel in der Nähe von Manaus um das BDFFP (Biological Dynamics of Forest Fragments Projekt) zu besuchen. So ergeben die einzelnen Kapitel eine Art Reise von der Historie der Palynologie zu den aktuellen Forschungen zum Thema Artenvielfalt hin zu den leider sehr düsteren Prognosen.

Darwins Hauptwerk hiess ja nun einmal “On the origin of species” und nicht “On their extinction”, aber er fragte sich trotzdem, ob die Prozesse, die zum Verschwinden einer Art führen, zeitlich und räumlich ähnlich wirkten wie die, die neue Arten hervorbrachten. Darwin stellte sich dabei auf die Seite der Uniformisten wie William Lyell, die alle geologischen oder palynologischen Änderungen als Resultat langsamer Trends ansehen. Das Aussterben ist also bei den Uniformisten eher so etwas wie ein langsames Ertrinken. Die Gegenseite in der Nachfolge Georges Cuviers (“Catastrophists”) sah eher in riesigen und schnellen geologischen Umwälzungen (etwa die biblische Sintflut) den Grund für das Verschwinden von Arten aus den geologischen Archiven. Kolbert geht soweit, dass sie den Haupterkenntnisgewinn Darwins auf seiner Reise mit der Beagle nicht so sehr in der kontemplativen Beschau der nach ihm benannten Finken auf den Galapagosinseln sieht, sondern darin, dass er sich endlich die Zeit nehmen konnte William Lyells Werke zu studieren.

Heute wissen wir, dass beide Seiten recht hatten: Wenn auch viele geologischen Prozesse – und so auch das Verschwinden einer Art – unter natürlichen Bedingungen langsam und graduell stattfindet, so ist die Erdgeschichte doch durchlöchert mit Massensterben von Arten. Unter diesen Massensterben sind eben die big five, grosse Übergänge im geologischen Rekord an denen tausende von Arten und ganze Familien abrupt verschwunden sind. Die Palynologen definieren ein Massensterben als das Verschwinden von 75% aller Arten in 1 Millionen Jahren. Das hört sich dramatisch an, man muss aber dabei wissen, dass eine Aussterberate etwa für Vögel oder Säuger von 25% normal ist. Die Normalität ist also nur um einen Faktor 3 von einem epochemachenden Zusammenbruch der Artenvielfalt verschieden. Nähme man nur dieses Kriterium zum Massstab, dann ergibt sich aus einfacher Extrapolation die Größenordnung der jetzigen Vorgänge. In den letzten ca. 100 Jahren sind von 5488 bekannten Säugerarten (9990 Vogelarten) 1.38 % (respektive 76 Säugerarten; bei den Vögeln handelt es sich um sehr ähnliche 1.34% oder 134 Arten) ausgestorben. Gemessen an diesen auf geologischen Skalen riesigen Zahlen kommt man natürlich schnell auf die in der Presse häufig genannten “Aussterberaten”, die 100-1000fach über den natürlichen liegen. Kolbert erklärt sehr gut die mit dieser Analyse verbundenen Unsicherheiten. Insbesondere ist natürlich das Kriterium des “Austerbens” selbst ein grosses Problem, um den Zustand der Artenvielfalt jetzt und in naher Zukunft einzuschätzen. Wie lange wurde eine Vogelart nicht mehr gesehen und gilt dann irgendwann als offiziell ausgestorben? Wieviele Arten lassen sich noch heute in durchaus größerer Individuenzahl finden, sind aber letztlich zum Austerben verurteilt, weil ihr Lebensraum de facto nicht mehr existiert? Diese Verzögerung in der offizielen Feststellung des Aussterbens und dem unvermeidlichen Hinsichen der letzten Exemplare einer Spezies nenn man auch die extinction debt. Selbst bei Vögeln und Säugetieren ist es schwer diese “debt” genau anzugeben, was eben die riesigen Spannbreiten (100-1000fach über normal) bei den Aussterberaten erklärt.

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Kommentare (1)

  1. #1 Georg Hoffmann
    Dezember 23, 2015

    test