Seit Mittwoch gelten neue EU-Regeln für die gewerbliche Zubereitung von Lebensmitteln in Bezug auf die Vermeidung von Acrylamid. Dieser Stoff war vor etwa 15 Jahren schon mal in aller Munde und wie vor kurzem beim Fipronil-Skandal habe ich mich auch jetzt wieder auf die Suche nach ein paar Zahlen gemacht, um das Risiko zumindest einigermaßen abschätzen zu können.
Bei Fipronil war das alles etwas einfacher. Ich fand schnell die Studienergebnisse, die Zahlen und konnte mir ein Bild machen. Für Acrylamid musste ich ein bisschen suchen. Glücklicherweise ist das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) gut aufgestellt und publiziert aussagekräftige Berichte, am Ende wurde ich also schon fündig.
Was ist Acrylamid und warum wird darüber diskutiert?
Zunächst die Fakten: Acrylamid wird in der chemischen Industrie als Vorprodukt zur Herstellung von Kunststoffen und Farben verwendet. Es trägt die Gefahrstoffmerkmale giftig, krebserzeugend und erbgutverändernd. Seit den ersten Berichten in 2002 über erhöhte Acrylamidwerte in Lebensmitteln ist es in den Fokus der Öffentlichkeit und der entsprechenden Behörden geraten. Acrylamid wird den Lebensmitteln nicht zugesetzt, sondern entsteht beim Backen, Rösten und Frittieren mit hohen Temperaturen (nicht aber beim Kochen). Wird die Temperatur von 168 °C nicht überschritten, entsteht praktisch kein Acrylamid. kann aus Sicht der Acrylamiddarstellung beliebig lange gebrutzelt werden. Im Körper wird es in das sehr reaktionsfreudige Glycidamid umgebaut. Es wirkt im Tierversuch krebserzeugend, Nervenschädigend und erbgutverändernd. Nervenschäden treten erst oberhalb einer bestimmten täglichen Dosis auf, die im Normalfall nicht erreicht wird. Deswegen sind sie für die Risikobetrachtung irrelevant. Für die krebserzeugende Wirkung gibt es keine solchen Schwellwerte.
Welche Risikobewertungen gibt es?
Untersuchungen verschiedener europäischer Behörden legen nahe, dass die durchschnittliche Aufnahme von 95 % der Bevölkerung maximal 0,3 µg/Kg Körpergewicht bis 1 µg/Kg Körpergewicht pro Tag beträgt[1]s.3,[2]s.3. Ein Erwachsener nimmt also konservativ über den ganz dicken Daumen gepeilt 100 µg pro Tag auf. Das BfR schätzt, dass bei dieser Aufnahme über die gesamte Lebenszeit die Eintrittswahrscheinlichkeit für Krebs um 6 bis 100 pro 10.000 Individuen steigt[1]s.4. Eine sehr große Bandbreite. Auf spezielle Krebsarten wird dabei nicht näher eingegangen, aber in [2] findet man ab Seite 12 für einige die im Tierversuch ermittelte Werte. An Krebs erkranken im Laufe ihres Lebens rund die Hälfte aller Menschen.
Wie kann man die Acrylamidwerte senken?
Da Acrylamid vor allem durch die Zubereitung der Lenbensmittel entsteht, wurden schon 2002 Vorschläge gemacht: Frittieren von Pommes frites nur noch mit 175 °C bzw. Backen im Umluftofen bei höchstens 190 °C. Dito dürfte für Brot gelten, in dessen Kruste Acrylamid ebenfalls entsteht, es wurde allerdings nicht explizit vorgeschlagen. Diese Vorschläge wurden im Lauf der letzten Jahre kodifiziert und mit der VERORDNUNG (EU) 2017/2158 zur Festlegung von Minimierungsmaßnahmen und Richtwerten für die Senkung des Acrylamidgehalts in Lebensmitteln in EU-Recht überführt. Das kann man sich alles mal durchlesen, wenn man will, aber im Grunde steht da nicht viel neues drin, außer Höchsttemperaturen für die Zubereitung, Auswahl geeigneter Kartoffelsorten und Vermeiden unnötigen Zuckers (das ist allerdings auch so sinnvoll).
Was heißt das für die Wirklichkeit?
Damit wir uns nicht zu sehr aufregen: Es gibt zwar neue EU-Regeln zur Zubereitung von Pommes, Brot und ein paar anderen Produkten, aber was ich oben geschrieben habe wissen die Experten, die die Entscheidungsträger beraten ja auch. Deshalb sind die neuen Regeln so schwammig, dass man da alles reininterpretieren kann und enthalten keinerlei Sankionsmechanismus. Das Wörtchen muss kommt fast nie vor, dafür oft kann oder soll, die Zahlenwerte sind keine Grenz-, sondern Richtwerte und de facto liegt es wohl im Ermessen der Behörde, ob sie bei Überschreiten derselben wirklich die Produkte aus dem Verkehr ziehen lässt oder den Hersteller anders sanktioniert. Deswegen gibt es eine gute Chance, dass die praktischen Auswirkungen nicht besonders groß sein werden – Mehr als ein bisschen am Temperatursteller der Fritteuse drehen und ein Mal mehr aufs Etikett am Kartoffelsack gucken wird’s wohl nicht werden. Folgt man dem Buchstaben der Verordnung, wären zwar aufwändige Kontrollen auch denkbar, aber das gilt für sehr viele Bereiche, in denen die Regeln dann auch in einer praxistauglichen Form angewendet werden. Viele Arbeitsschritte gehören sowieso zur Produktion von Lebensmitteln, insbesondere vorgegarter wie Pommes frites, die Informationen für den Endverbraucher können in einer Zeile in die Karte geschrieben werden (ähnlich wie Allergene) und mit Bräunungstabellen wird vor dem Kunden wahrscheinlich nur als Zeichen des Protests gegen die neue Verordnung hantiert werden. Ich vermute, dass ich meine Pommes auch morgen noch goldgelb und mein Krustenbrot mit dunkelbrauner Kruste kaufen kann.
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