An dieser Stelle kommt jetzt ein wichtiger Satz: Sicherheitsgerichtete Technik dient nur sekundär dem Schutz vor wirtschaftlichem Schaden. Denn wirtschaftlicher Schaden hat für die Betrachtung einen eklatanten Nachteil: Er ist verhandelbar. So fallen 10 € mehr, die ich im Jahr habe oder nicht habe niemandem auf. Bei 100 € werde ich hellhörig. 1.000 € tun weh. 10.000 € stellen mich vor ernsthafte Probleme und 100.000 € wären eine Katastrophe. Das gilt aber nur für mich als Privatmensch – wie steht es bei einem Unternehmen? Wie viele Nullen kann Hella anhängen, bis der Schaden wirklich weh tut? Wie viele Bosch? Wie viele VW? Wie viel davon kann durch Versicherungen, etc. substituiert werden? Wie viel Gewinn haben sie im Vergleich zum Schaden erwirtschafttet? Dazu kommt die persönliche Ebene. Angenommen ich bin Manager: Wie viel erwritschaftetes Geld kann ich mir selbst zuschreiben? Wie groß wird mein Bonus sein? Wie groß kann der Schaden höchstens werden? Bin ich überhaupt noch da, wenn er sich realisiert? Und wie viel davon kann man mit mir in Verbindung bringen? Sich in einer solchen Situation schadlos zu halten, besoders, wenn man sowieso außer Landes ist, fällt den Verantwortlichen erfahrungsgemäß nicht schwer. Weil Entscheidungen in Unternehmen selten von Einzelpersonen getroffen werden, kann sich jeder immer darauf zurückziehen, dass wir dieses oder jenes beschlossen haben und nicht ich. Ähnlich einem Peloton, bei dem immer eine Platzpatrone im Spiel ist. Wer weiss schon, in welchem Gewehr sie steckt? Hinterher kann jeder sich einreden, dass er nicht Schuld am Tod des Deliquenten sei.
Und darin liegt eine große Gefahr für Moral-Hazard-Verhalten, also der unbekümmerten Rücksichtslosigkeit oder Verantwortungslosigkeit. In jeder hierarchischen Organisation, also auch in jedem Unternehmen, finden sich unter anderem zwei für Menschen typische Verhaltensweisen: Zunächst gibt keiner sein eigenes Geld aus und wenn das Unternehmen groß genug ist, fällt die Verschwendung im Kleinen lange gar nicht auf. Und wenn doch, dann rettet uns der Effekt der Diffusion von Verantwortung[1], der in einfachen Worten dafür sorgt, dass wir uns umso weniger Schuld bewusst sind, je größer der Personenkreis ist, der davon wusste.
Weil wirtschaftlicher Schaden zwar intuitiv einfach erfassbar scheint, bei näherer Betrachtung aber keine besonders zuverlässige Einschätzung des Schadenspotentials erlaubt, rotiert das ganze Risikomanagement im Wesentlichen um die Frage, welches menschliche Leid durch einen Unfall angerichtet werden kann, denn menschliches Leid ist nicht verhandelbar. Diese Erkenntniss setzt sich langsam auch wirklich durch. Dass höhere Manager, die üblicherweise nicht Karriere gemacht haben, indem sie Bonbons verteilen, das Wohl von Menschen bestenfalls tangieren mag und auch unter den Sachbearbeitern noch viel zu viele davon nicht wesentlich berührt werden – beides immer wieder eindrucksvoll in aller Welt dokumentiert – will ich gar nicht bestreiten. Aber zumindest unter den Menschen, die sich mit sicherheitsgerichteter Technik und Risikomanagement beschäftigen gibt es einen einigermaßen breiten Konsenz: Der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Menschen ist das primäre Ziel.
Menschliches Leid lässt sich ganz grob in drei Kategorieren einteilen:
- Reversible Verletzungen, seien sie nun physischer oder psychischer Natur, können nach dem Unfall vollständig verheilen und bedrohen das Leben nicht akut. Von Narben auf der Haut und auf der Seele abgesehen. Das sind zum Beispiel Schnitte, Prellungen, Schürfwunden.
- Irreversible Verletzungen hinterlassen eine Wunde, die nie mehr heilt. Der Verlust von Gliedmaßen oder Sinnesorganen, schwere internistische oder neurologische Schäden, seelische Traumata die nie ganz überwunden werden fallen in diese Kategorie.
- Tod. Unter Umständen unterteilt nach dem Potential für einen oder für mehrere Tote. Die ISO 13849, Mutternorm des Maschinenschutzes kennt die Unterscheidung nicht. Die IEC 61508, Mutternorm für die Anlagensicherheit unterscheidet.
Wem wird gerade etwas flau im Magen? Glückwunsch, das ist die passende Reaktion. In der Tat wäre es seltsam, wenn der Gedanke an abgerissene Gliedmaßen und zerstörtes Augenlicht im Zusammenhang mit einem schweren Unfall so ganz spurlos an einem vorüber ginge. Die Integrität und Unversehrtheit des eigenen Körpers ist für die meisten Menschen ein hohes Gut und wer nur ein bisschen Empathie besitzt, wird mit der Transferleistung, in dieser Hinsicht von sich auf andere zu schließen keine Probleme haben.
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