Ich hatte ja schon länger vor, wieder mal was zum Brexit und der für mein Gefühl, der britischen Tradition des understatements folgend, suboptimalen Organisation der britischen Verhandlungsführer zu schreiben, insbesondere da die Uhr langsam abläuft und viel viel weniger Zeit für den Abschluss der Verhandlungen bleibt, als das offizielle Austrittsdatum des 29. März 2019 suggeriert. Dass auch noch die beiden, zumindest de jure, wichtigsten Verhandlungsführer am selben Tag zurückgetreten würden war unerwartet und macht die Sache nicht einfacher.
Ich habe den Eindruck, dass die britische Regierung in mehr als zwei Jahren keinen kohärenten und mit den Prinzipien der EU27 kompatiblen Plan für den Brexit hat, während von der EU am Tag 1 nach dem Referendum ein Positionspapier veröffentlicht wurde, von dem die Verhandlungsführer bisher nicht wesentlich abgewichen sind und das am Tag des Antrags auf Austritt nach Artikel 50 des Vertrages von Lissabon präzisiert wurde.
Die Britische Regierung hat es versäumt, die so wichtige Frage zu beantworten, was sie eigentlich will, welchen der vielen möglichen Brexits sie anstrebt, bevor sie sich in die Verhandlungen stürzte. Die Briten stecken nun in einer schwierigen Lage, aus der sie nicht einfach wieder herauskommen. Ob der Austritt aus der EU das Vereinigte Königreich wirklich besser oder schlechter stellt, ist dabei gar nicht die Frage.
Am 06. Juli wurde ein neues Positionspapier veröffentlicht (bzw. dessen Zusammenfassung – die vollständige Fassung folgt), das nach vieler Leute Meinung eine deutliche Absage an den Harten Brexit ist. Ich bin da skeptisch, denn keiner der aufgeführten Punkte ist besonders neu und alle sind so vage formuliert, dass man alles und nichts hineininterpretieren kann. Mein Gefühl sagt mir, dass May weiss, dass die EU auch dieser Position nicht zustimmen wird. Und sie die formelle Ablehnung braucht, um das Vereinigte Königreich de facto aus der EU- in so etwas, wie die EFTA-Mitgliedschaft zu überführen.
Im Moment halte ich für den Verlauf der nächsten Jahre folgende Szenarien für plausibel (aufgeführt nach absteigender Wahrscheinlichkeit)
- In letzter Sekunde wird etwas entschieden, das den Status Quo für die Zeit bis mindestens 2020 sichert. Die EU wird mehr oder minder die Bedingungen diktieren.
- Harter Brexit, inklusive allem, was man nicht will: WTO-Regeln mit harten Grenzen, insbesondere zu Nordirland, Erlöschen der bisherigen Open-Skies-Mitgliedschaft, etc. Eine britische Regierungskrise dürfte die Folge sein.
- Die britische Regierung bietet den EU27 die Rücknahme des Austritts gemäß Artikel 50 an. Das ist nach mancher Lesart möglich, setzt aber de facto die Zustimmung der anderen Mitglieder voraus. Wie die EU27 darüber befinden, mögen andere vorhersagen.
- Die EU nimmt die britische Verhandlungsgrundlage ohne Bedingungen an.
- Wie (2.), nur mit Austritt von Nordirland aus dem Vereinigten Königreich und Beitritt zur Republik Irland (Halte ich für so unwahrscheinlich, wie die deutsche Wiedervereinigung in 1984 aussah).
Was bisher noch zu selten gesagt wird ist, dass die Zeit jetzt sehr laut tickt. Bis zum nächsten Gipfeltreffen im Oktober 2018 muss der Austrittsvertrag stehen, damit die Parlamente des VK, der EU27 und das EU-Parlament zustimmen, sowie die Regierungen des VK, der EU27 und die EU-Kommission ihn ratifizieren können.
Eingedenk der Tatsache, dass die Unterhändler des Vereinigten Königreiches durch die Rücktritte von Davis und Johnson jetzt dazu gezwungen wurden, mitten im Rennen, sozusagen auf der Zielgerade, die Pferde zu wechseln, engt den Spielraum zusätzlich ein. Außerdem wird man einige Zeit für Diskussionen und Anpassungen einplanen müssen. De facto muss in den nächsten paar Wochen der Austrittsvertrag in eine Form gebracht worden sein, die im allerschlimmsten Notfall und mit viel Zähneknirschen so durch die Instanzen gehen könnte. Man darf gespannt sein, was die unmittelbare Zukunft noch bringt.
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