Mittelfristig steht nichts Geringeres als die gesamte Automatisierungstechnik in Russland auf der Kippe und ich habe große Zweifel, dass das den Verantwortlichen in Russland, aber auch den Analysten überall auf der Welt wirklich klar ist.
Selbst größtmögliche Skrupellosigkeit bei potentiellen Kriegsgewinnlern vorausgesetzt gibt es keine praktisch realisierbare Möglichkeit für Russland, mittelfristig (das heißt über die nächsten zwei, drei Jahre) das aktuelle Niveau zu halten. Schon jetzt fehlen qualifizierte Servicetechniker, um Anlagenänderungen umzusetzen und Software zu warten. Bald werden Hardware-Defekte sich nennenswert auf die Anlagenverfügbarkeit auswirken. Und das wird erst der Anfang sein.
Nicht nur die eigentliche Produktion, auch die Produktionsplanung, die Vernetzung von Einkauf, Lagerhaltung und Distribution, geschweige denn Just-in-Time-Lieferungen werden zukünftig viel schwieriger. Kein großes Unternehmen kann heutzutage auf Systeme wie SAP verzichten.
Mögliche Folgen
Man wird dem sich anbahnenden Mangel eine Zeit lang entgegenwirken können. Ersatz-Hardware wird zu einem gewissen Grad lagermäßig vorgehalten und wenn die Lagerbestände aufgebraucht sind, bietet die vorhandene Anlage in der Regel noch Möglichkeiten zur Einsparung, z.B. indem man redundante Messungen demontiert und die freigewordenen Kanäle im Leitsystem anderweitig nutzt.
Mittelfristig wird den Servicetechnikern nichts anderes übrig bleiben als die am wenigsten produktionsrelevanten Systeme zu kannibalisieren, um die wichtigeren am Laufen zu halten. Ganz ähnlich wie der nagelneue A350, der schon jetzt für Ersatzteile ausgeschlachtet werden muss. Nichtsdestotrotz wird die Anlagenverfügbarkeit sinken, die Produktqualität leiden, die Flexibilität der Fabriken und damit ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt abnehmen.
Die mit dem Betrieb von Anlagen verbundenen Risiken und damit die Wahrscheinlichkeit von Unfällen werden steigen. Spätestens wenn die Techniker gezwungen sind, zwischen Verfügbarkeit und Sicherheit zu wählen, weil sicherheitsgerichtete Technik nicht mehr verfügbar ist.
Das bedeutet keineswegs, dass notwendigerweise die Lichter ausgehen und es zu Katastrophen Bophal’schen Ausmaßes kommt, aber dass die Anlagen nicht mehr so effizient betrieben werden können und die Frequenz von Störfällen oder gar Unfällen aller Größenordnungen steigt.
Ich vermute, man wird dem Verlust moderner Technik durch verstärkten Einsatz von Menschen begegnen. Es wird wieder mehr einfache manuelle Tätigkeiten in den Anlagen geben, also z.B. statt eines elektrischen Druckmessumformers und einer Anzeige im Leitsystem ein Manometer vor Ort, das bei regelmäßigen Rundgängen abgelesen wird. Es wird mehr händische Eingriffe in den Prozess geben, z.B. anstatt eines elektro/pneumatisch angesteuerten Regelventils ein Handventil oder einen Kugelhahn, der entsprechend der Vorgabe des Schichtführers oder Produktionsmeisters gestellt wird.
Es wird aber auch wieder mehr einfache Verwaltungsakte geben, die letztes Jahr noch automatisch oder semiautomatisch abgelaufen sind. Mehr händischer Datenübertrag, mehr Papierformulare, mehr handgezeichnete Pläne und so weiter. Zurück in die unvernetzte EDV der 1990er Jahre, die die Nachteile des papiergetriebenen und elektronischen Büros so erfrischend kombinierte.
Die Komplexität der Produkte wird abnehmen. Moderne Industrieanlagen sind in der Lage ihre Produkte schnell auf Kundenwünsche anzupassen. Die Produktion von Autos ist das klassische Beispiel aus der Fertigungstechnik, aber auch in der Prozessindustrie gibt es viele Produkte, die automatisiert genau nach Kundenwunsch produziert werden. Zum Beispiel wird oft ein Grundprodukt produziert und dann mit verschiedenen Zuschlagstoffen gemischt, damit es beim Kunden genau die gewünschten Eigenschaften zeigt. Ohne breite und tiefe Automatisierungstechnik ist diese Art der Produktion unmöglich.
Russische Fabriken werden wieder vermehrt Standardprodukte liefern: Ein paar Autotypen in einer Handvoll Varianten, nur noch noch eine Sorte Klebstoff, eine Sorte Wandfarbe – mit zwei Wörtern: weniger Vielfalt. Dafür ist der Lack weniger kratzfest, der Klebstoff enthält mehr Lösemittel, der Pigmentgehalt der Wandfarbe schwankt und so weiter. Das wird nicht nur die Endkunden betreffen, sondern auch die Business-to-Business-Handel, der in der Chemiebranche den größten Teil der Umsätze ausmacht. Mein Arbeitgeber, Bayer, Dow oder wer auch immer wird bessere Qualität zu einem nicht wesentlich höheren Preis liefern. Es ist fraglich, ob russische Firmen da konkurrenzfähig bleiben können.
Kommentare (13)