In letzter Zeit wird im Zuge des Ukraine-Krieges und des sich augenscheinlich anbahnenden Israelisch-Iranischen Krieges das Thema Kernwaffen öffentlich besprochen. Die Fragen sind:
- wie wahrscheinlich ist die Entwicklung von Kernwaffen in der Ukraine, Iran und nachgelagert allen Ländern mit vergleichbaren Möglichkeiten
- was bräuchten sie dazu
- was wäre dadurch gewonnen und/oder verloren
Ich nähere mich diesen Fragen in meiner Eigenschaft als Ingenieur, der Großprojekte in der Industrie kennt. In der Einschätzung zum Sinn oder Unsinn und dem Für und Wider folge ich der Einschätzung von Studien, wie Hermann Kahns On Thermonuclear War und Thinking About The Unthinkable, der sich schon seit den 1960ern Jahre solche Fragen stellte und umfangreich bearbeitete. Dem kann man folgen oder nicht, in jedem Fall stellt es so was wie die “Lehrmeinung” dar. Was ich mir unabhängig davon selber denke, habe ich kenntlich gemacht.
Zu Frage 1 hat der Historiker Thorsten Heinrich in seinem kürzlich erschienenen Video zum (mittlerweile erfolgten) Israelischen Luftangriff auf den Iran sehr gute Argumente gebracht: Zurzeit besitzt der Iran vermutlich keine Kernwaffen, allerdings genügend Uran mit einem hohen Anreicherungsgrad und die Technologie, in relativ kurzer Zeit ausreichend waffenfähiges Material für einige Bomben zu bauen. Dieser vage Zustand zwischen noch-nicht-haben und schnell-bekommen-können ist aus Iranischer Sicht nützlich, denn einerseits ist die latente Bedrohung da, anderseits ist sie noch nicht konkret und wieder andererseits kann sie es jederzeit werden. Das erzeugt Unsicherheit im gegnerischen Lager. Insbesondere in Bezug auf die Frage, ob man das Kernwaffenprogramm direkt angreifen soll oder nicht. Heinrich ist der Meinung, dass Israel das nicht wagen wird, denn jeder Angriff, der nicht zur völligen Zerstörung der Anlagen führt, wird den Sprint zur Kernwaffe auslösen. Iran weiss das und schützt sie durch Verlegung in tiefe Bunker und verstärkte Luftabwehr an der Oberfläche (Nach meinem Verständnis sinngemäß seine Worte, ich hoffe; ich lege ihm da nichts in den Mund).
Die Ukraine ist in einer anderen Situation, denn sie befindet sich bereits in einem offenen Krieg gegen eine Atommacht, die offizieller nicht sein könnte, vergeht doch kaum eine Woche, in der nicht ein russischer Talkmaster oder Politiker mit Kernwaffen droht. Das Management der russischen Drohungen und die Furcht vor russischer Eskalation sind wesentliche Eckpfeiler der westlichen Politik in Bezug auf die Ukraine. Wenn die letzten beiden Jahre der Maßstab sind, dann scheint zurückweichen vor russischen Drohungen effektiver russische Aggression einzuladen als entschlossenes Dagegenhalten. Zu Russlands roten Linien gibt es einen länglichen Wikipedia-Artikel und ich wäre nicht überrascht, wenn “Russlands letzte Warnung” nach dem Krieg ein ähnlich geflügeltes Wort würde, wie “Chinas”.
So einfach sollte man sich die Welt natürlich nicht machen, wenn es um Kernwaffen geht und auch das ist den westlichen Regierungen bewusst. Mitunter deswegen wird die Hilfe auch so sparsam dosiert (Stichwort: Freigabe weitreichender Waffen). Westliche Politik scheint zu sein, Russland grade so viel Polonium in den Tee zu tun, wie für eine langsame Gewöhnung nötig ist. Gerade weil der Nutzen für die Ukraine höchst fraglich ist (dazu unten mehr) und Kernwaffen nicht nur für Russland eine echte rote Linie darstellen könnten, sondern auch für ihre westlichen Unterstützer, ist es fraglich, ob die Ukraine wirklich den Schritt wagt, laut Gedachtes in die Tat umzusetzen und ein Kernwaffenprogramm zu starten. Allerdings ist die Ukraine in verzweifelter Lage. Und wenn man in verzweifelter Lage ist, neigt man zu Verzweiflungstaten. In den letzten fünf Jahren ist einiges in der Welt passiert, was für höchst unwahrscheinlich gehalten wurde.
Angesichts dieser konkreten Beispiele neigt man leicht dazu zu vergessen, dass es auch noch eine Menge anderer Länder auf der Welt gibt, für die Kernwaffen sowohl in Reichweite liegen als auch attraktiv sein könnten. Südafrika hatte in den 1970er Jahren ein Kernwaffenprogram und in den frühen 1980ern ein halbes Duzend Bomben produziert. Israel ist bewusst vage, was seinen Status angeht, macht aber de facto auch niemandem was vor. Schweden hatte bis 1972 ein weit fortgeschrittenes Kernwaffenprojekt. Taiwan bis Ende der 1980er Jahre ebenso. Selbst Jugoslawien bis 1970. Alles keine Großmächte. Und bis auf die Länder des ehemaligen Jugoslawiens heute von bedeutend größerer wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit.
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