Je nachdem wie der Ukraine Krieg und der mögliche Israelisch-Iranische Krieg ausgehen, wird jeder Premierminister auf Lebenszeit jeder demokratischen Volksrepublik, die die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zur Produktion von Kernwaffen und einigermaßen gute Beziehungen zu Ländern hat, die Technologie-Export nicht abgeneigt sind, sich die Frage stellen, ob Kernwaffen für das eigene Land nicht eine runde Sache sind. Dieselbe Frage werden sich auch demokratisch regierte Länder, deren Möglichkeiten außer Frage stehen stellen. Brasilien, Argentinien und Taiwan hätten sie bestimmt. Indonesien, Thailand und Vietnam wahrscheinlich auch. Die Liste ließe sich fortführen.

Das bringt uns zur Frage 2: Was braucht man zum Bau einer Kernwaffe Im Jahre 2024?

Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.

Eine Industrie, die die benötigten Anlagen in der erforderlichen Größe bauen und betreiben und die angewandte Forschung zur Konstruktion der Waffe leisten kann. Viel mehr ist nicht nötig. Der nuklearen Proliferation sind weit weniger technische Hürden gesetzt als immaterielle. Kernwaffen sind ein Tabu. Oder zumindest waren es bisher.

1942 waren Kernwaffen eine unsichere Möglichkeit. Es fehlte an Grundlagenforschung, an Erfahrung, am Verständnis des neuen Feldes der Kerntechnik an sich. Das Manhattan-Projekt startete mit der Unsicherheit, ob das Ziel überhaupt würde erreicht werden können. Man hatte theoretische Modelle und wenig experimentelle Sicherheit. Man musste von Grund aus alles lernen, was zum Verständnis der Physik des prompt überkritischen Leistungsreaktors namens Atombombe nötig ist.

Und ebenso bemerkenswerter wie viel zu oft vergessener Weise stellten Forschung und Entwicklung nur einen kleinen Teil des Aufwands dar, der für das Manhattan-Projekt getrieben wurde. Nach dem Krieg wurde aufgeschlüsselt, welcher Teil des Programms wie viel gekostet hat und die Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache:

Von den Gesamtkosten von ca. 1,9 Milliarden USD in 1945 entfielen nur knapp 4 % oder 75 Millionen auf Einrichtungen zur Forschung und Entwicklung, etwa genauso viel auf die Forschung selbst. Mehr als 1,7 Milliarden USD, rund 90 % der Gesamtkosten, machten Bau und Betrieb der Industrieanlagen zur Produktion von waffenfähigem Uran und Plutonium bzw. deren Hilfseinrichtungen aus.

In 2024 hat sich an dieser Grundrechnung nicht viel geändert. Es stimmt, dass die Großmächte Jahrzehnte in Entwicklung und Tests der Bomben und ihrer Trägersysteme gesteckt haben, aber dafür haben sie dann auch kleine, präzise, weit reichende Goldrandlösungen mit Goldrandperformanz. Man muss sich bewusst machen, dass Atombomben letzten Endes Technologie der 1940er Jahre sind und schon in den 1960ern die frei verfügbaren Informationen nicht-Fachleuten zur Entwicklung durch Fachleute bestätigt plausibler Bombenkonzepte ausreichten.

1964 startete das Lawrence Livermore Nation Laboratory das Nth Country Experiment. Drei junge Physiker, die gerade ihre Promotion vollendet und keine Erfahrung mit der Entwicklung von Kernwaffen hatten, wurden damit beauftragt, anhand frei verfügbarer und nicht geheimer Informationen eine Kernwaffe zu konzeptionieren. Ziel war keine Goldrandlösung sondern etwas, was heute immer noch plausibel ist: Eine Kernwaffe die, in kleiner Zahl von einem kleinen Land gebaut, einen signifikanten Effekt auf dessen Außenpolitik hätte. Das Experiment endete 1967 mit einem – mittlerweile freigegebenen – Geheimreport, der den Physikern bescheinigte, eine machbare Waffe entwickelt zu haben.

In den 1970er Jahren entschlüsselte Howard Morland, ein Journalist und ehemaliger Transport-Pilot der US Air Force, allein durch Sichten öffentlich verfügbarer Informationen und geschicktes Nachfragen die Grundprinzipien des Teller-Ulam-Designs oder mit anderen Worten: Der Wasserstoffbombe. 1979 veröffentlichte er seine Ergebnisse im Journal The Progressive, wurde von der US-Regierung verklagt, aber freigesprochen, weil er vor Gericht nachweisen konnte, nichts unrechtmäßig in Erfahrung gebracht zu haben. Seit 1979 wurde das Teller-Ulam-Design exzessiv von Fachleuten untersucht und Morland in Einzelheiten korrigiert bzw. das Design effizient erweitert; in der Fachwelt besteht aber meines Wissens nach Konsens, dass es physikalisch Sinn macht und zu allen Beobachtungen passt, die über Thermonukleare Waffen bekannt sind.

Und 2003 veröffentlichte John Custer-Mullen, ein Arbeiter und Lastwagenfahrer mit wenig formeller naturwissenschaftlicher Ausbildung, das Buch Atom Bombs: The Top Secret, Inside Story of Little Boy and Fat Man, eine enorm detaillierte, geradezu revolutionäre Beschreibung der Entwicklungsgeschichte und Technik der allerersten Kernwaffen. Auch wieder ohne jeden Zugang zu geheimen Dokumenten, nur aufgrund von Gesprächen und frei verfügbaren Informationen.

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Kommentare (14)

  1. #1 hto
    wo Bewusstseinsschwäche mit Bewusstseinsbetäubung ...
    28. Oktober 2024

    In dieser Welt- und “Werteordnung” des “gesunden” Konkurrenzdenkens der “Ökonomie” von unternehmerischen Abwägungen zu “Wer soll das bezahlen?”, im stets gleichbleibenden Verhältnis von 1:5 (Wohlstand : Tittytainment) der Weltbevölkerung in materialistischer “Absicherung”, wo die Deutungshoheit der wettbewerbsbedingt-konfusen Symptomatik von “Wer soll das bezahlen?” im nun “freiheitlichen” Wettbewerb stumpf-, blöd- und wahnsinnig-eskalierend bestimmt wird, kann ich jede Bestrebung nach der ultimativen Macht durch Atomwaffen verstehen, denn das entspricht auch der immernoch gleichermaßen unverarbeitet-instinktiven Bewusstseinsschwäche von Mensch in Angst, Gewalt und egozentriertem “Individualbewusstsein”, wo längst ein geistig-heilendes Selbst- und Massenbewusstsein das ganzheitlich-ebenbildliche Wesen Mensch in globalem Gemeinschaftseigentum OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik gestalten sollte, auf der Basis eines UNKORRUMPIERBAREN Menschenrechts zu KOSTENLOSER Nahrung, MIETFFREIES (Sozial-)Wohnen und ebenso KASSENLOSER Gesundheit – Wenn GRUNDSÄTZLICH alles Allen gehören darf, so daß “Wer soll das bezahlen?” keine Macht mehr hat, bekommen Vernunft, Verantwortungsbewusstsein und alle anderen Werte zweifelsfrei-eindeutig eine wirkliche Wahrhaftigkeit, für die Mensch auch keine, bzw. wenig KI braucht, denn KI Mensch wird somit erwachsen!?

  2. #2 hto
    28. Oktober 2024

    O.G.: “In den letzten fünf Jahren ist einiges in der Welt passiert, was für höchst unwahrscheinlich gehalten wurde.”

    Ich habe nach dem “Fall des eisernen Vorhangs” nie daran geglaubt das Schluss ist, denn der nun “freiheitliche” WETTBEWERB ist die URSACHE aller Probleme unseres “Zusammenlebens” im GeschäftsUN-Sinn, und als der Westen in herkömmlich-gewohnter Gewinnsucht anfing Russland und China mit Investitionen zu korrumpieren, da war ich sicher, daß das so in ein übles Zeitalter mündet.

  3. #3 Staphylococcus rex
    28. Oktober 2024

    Um die Gefahr der Einsatzes von Nuklearwaffen einzudämmen, ist es aus meiner Sicht wichtig, sich mit den Spielregeln zu beschäftigen. Die Hauptaufgabe von Nuklearwaffen ist die Abschreckung. Nur wie viele Waffen und welche Einsatzkriterien/Militärdoktrin braucht man zur Abschreckung?

    Man könnte z.B. eine minimale nukleare Abschreckung definieren und dazu Obergrenzen für die Anzahl der Sprengköpfe, der Gesamtsprengkraft und der Trägersysteme. Ich will mich hier nicht auf genaue Zahlen festlegen, dazu bin ich hier zusehr Laie und nicht Fachmann. Aber Länder wie GB, Frankreich, Israel, Indien und Pakistan würde ich in diese Gruppe einordnen.

    Ehemalige oder zukünftige Großmächte haben deutlich mehr Nuklearwaffen, auch wenn ich es nicht begrüße, wäre es sinnvoll, für diese Staatengruppe die Kategorie der erweiterten nuklearen Abschreckung zu definieren. Auch hier sollte das Ziel sein, sich auf verbindliche Obergrenzen für Anzahl der Sprengköpfe, Gesamtsprengkraft und Anzahl der Trägersysteme festzulegen.

    Mindestens genauso wichtig wie zahlenmäßige Obergrenzen sind verbindliche Einsatzbegrenzungen. In den 80-er Jahren gab es Diskussionen über das Erstschlagsverbot. Wenn ich mich richtig erinnere wollte die Nato damals nicht auf den Ersteinsatz verzichten. Aus meiner Sicht würde es reichen, wenn man den (offensiven) Ersteinsatz außerhalb des eigenen Staatsgebietes verbietet und ächtet. Wenn sich alle daran halten würden, dürfte nie eine Rakete auf ein fremdes Staatsgebiet abgefeuert werden.

    Ganz wichtig aus meiner Sicht wäre die weltweite Ächtung atomarer Mittelstreckenwaffen. Gefechtsfeldwaffen haben eine begrenzte Reichweite. Ballistische Raketen haben eine längere Vorwarnzeit sind sind für einen Gegenschlag absolut ausreichend. Für einen präventiven Enthauptungsschlag benötigt man Mittelstreckenwaffen. Mittelstreckenraketen haben für mich nichts mit Defensive und Abschreckung zu tun, sondern sind reine Angriffswaffen. Die extrem kurze Vorwarnzeit läßt keinen Platz für menschliche Fehler. Auch wenn Militärs das Gegenteil behaupten, Mittelstreckenwaffen verringern nicht das Risiko, sondern erhöhen es deutlich.

    Die Büchse der Pandora ist bereits geöffnet, Personen wie Putin und Trump sind selbst tickende Zeitbomben und psychisch nicht geeignet für den Umgang mit Atomwaffen. Umso wichtiger wäre es, sich auf neue verbindliche Spielregeln zu einigen.

    • #4 Oliver Gabath
      29. Oktober 2024

      Um die Gefahr der Einsatzes von Nuklearwaffen einzudämmen, ist es aus meiner Sicht wichtig, sich mit den Spielregeln zu beschäftigen … verbindliche Obergrenzen für Anzahl der Sprengköpfe, Gesamtsprengkraft und Anzahl der Trägersysteme festzulegen.

      Absolut. Herman Kahn hat dazu Ende der 1950er ein interessantes Gedankenspiel gemacht. Beschränken wir uns nur auf die strategische Abschreckung (er nennt es Type I Deterrence, das Konzept entspricht im Wesentlichen MAD). Dann kann man sich folgendes überlegen: Reiht man die Städte einer Nation anhand ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auf, gibt es irgendwo einen Medianpunkt bei dem man sagen kann, alle Städte links davon und alle Städte rechts davon tragen jeweils 50 % bei. Weil Städte nicht gleich groß sind und Wirtschaft dazu neigt, sich zu konzentrieren, liegen rechts des Median nur wenige, sehr große Städte, links davon sehr viele kleine und mittlere und außerdem der ganze ländliche Raum. Die Städte rechts des Median nennt er A-Land und links des Median B-Land. Sein Argument ist, dass die sichere Zerstörung von A-Land bereits einen großen Teil der Abschreckung ausmacht, da A-Land nicht nur die Hälfte der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit enthält, sondern auch die wertvollsten Teile und nicht wesentlich weniger als 50 % der Bevölkerung. Ein interessanter Gedanke. On Thermonuclear War ist so oder so lesenswert.

      Die Büchse der Pandora ist bereits geöffnet, Personen wie Putin und Trump sind selbst tickende Zeitbomben und psychisch nicht geeignet für den Umgang mit Atomwaffen. Umso wichtiger wäre es, sich auf neue verbindliche Spielregeln zu einigen.

      Das ist richtig, aber mit der Verbindlichkeit ist das immer so eine Sache. Es gibt keine äußere Instanz, die internationale Regeln durchsetzen könnte. Ich paraphrsiere Böckenförde: Das nukleare Tabu lebt von Bedingungen, die es selbst nicht garantieren kann.

  4. #5 hto
    28. Oktober 2024

    St.rex: : “Umso wichtiger wäre es, sich auf neue verbindliche Spielregeln zu einigen.”

    Die Spielregeln des globalen Monopoly wurden schon mit allen anderen Spielen wie Schach, Poker, Risiko und sogar Mensch ärgere dich nicht kombiniert, die Verbindlichkeiten wollten einfach keine kapitulative Unterwerfung bewirken – Ich glaube das liegt an der hierarchieschen Bildung zu systemrationaler Suppenkaspermentalität!?
    😉

  5. #6 wereatheist
    28. Oktober 2024

    Ukraine hat keine RBMK-Reaktoren mehr, mit denen sich notfalls waffenfähiges Plutonium erbrüten ließe.
    Und Laser-Anreicherung (von U-235), von der seit den ersten abstimmbaren Lasern immer gemunkelt wird, existiert nicht (oder jede Person, die sie entwickelt (hat), war ganz schnell tot oder anderweitig zum Schweigen gebracht).
    Kernwaffeneinsatz gegen ein von Kernwaffen strotzendes Land ist eh suizidal.

    • #7 Oliver Gabath
      29. Oktober 2024

      Plutonium aus Leistungsreaktoren wäre eine Möglichkeit, aber in der Praxis sind alle Atommächte den Weg zum Waffenmaterial über dediziert dafür gebaute Reaktoren gegangen. Der B Reactor und seine unmittelbaren Nachfolger in Hanford sind lächerlich klein und krude im Vergleich zu einem Kernkraftwerk.

      Aber ja, der Einsatz von Kernwaffen eines kleinen Landes gegen eine Atommmacht ist suizidal. “A snowball’s chance in hell” wie es so schön heißt.

  6. #8 N
    29. Oktober 2024

    Kein Bereich wird so überwacht wie die Nutzung der Kernenergie.
    Die zerstörerische Wirkung einer Atombombe ist zeitlich begrenzt. Die Kontamination mit den radioaktiven Nukliden macht dagegen die betroffenen Gebiete auf sehr lange Zeit unbewohnbar.
    Also so befinden wir uns in der paradoxen Situation, das was am gefährlichsten ist, das schützt uns am meisten.

    Aber eines haben wir vergessen, was geschieht mit den Nuklearwaffen in U-Booten. Wenn das U-Boot gesunken ist und nicht gefunden wird.

  7. #9 hto
    29. Oktober 2024

    @N: “… das was am gefährlichsten ist, das schützt uns am meisten.”

    Die Welt dreht offensichtlich immer mehr durch, aber der Wohlstands-/Gewohnheitsmensch glaubt weiter zuversichtlich an materialistische “Absicherung”!?
    😉
    Es sind die U-Boote, die den Gläubigen des Raketensicherheitsschirms mächtig Kopfschmerzen bereiten!!!

  8. #10 N
    29. Oktober 2024

    “Wohlstands-/Gewohnheitsmensch”
    Das ist die europäische Sichtweise.
    Die Menschen in Afrika sind weder wohlhabend noch Gewohnheitstiere. Die suchen in Europa nur einen Arbeitsplatz und etwas kühleres Klima.

  9. #11 DH
    31. Oktober 2024

    Sachlicher Artikel, keine Selbstverständlichkeit in diesen Zeiten.
    Stimme zu, für die Ukraine wären A-Waffen kontraproduktiv, aber bisher würde ich noch von einer gewissen Vernunft im Westen ausgehen die eine solche Bewaffnung nicht unterstützen würde, und alleine dürfte das schwierig werden.
    “Gewalt lohnt sich.”
    Ist der Schaden für Rußland nicht weit größer für die eigene Machtposition als der Vorteil durch möglichen Gewinn von Territorien?
    Imperien gründen sich keineswegs nur auf Gewalt, sie brauchen eine übergeordnete Idee, und da hat sich Rußland eher einen Bärendienst erwiesen mit diesem Krieg.
    Kurzzeitig sah es mal so aus- in Syrien und drum herum- als würde Rußland die Rolle einer überwiegend zivilen Schutzmacht antreben und in die Lücken stoßen die der Westen und die UN dort lassen, aber das war wohl nur ein Strohfeuer.
    Auch hat Rußland, teilweise zumindest, verbrannte Erde hinterlassen bei denjenigen in Europa, die in Putin eine Alternative sahen zu einer westlichen Welt deren Form sie zunehmend ablehnen- einen Krieg zu unterstützen, der Weg ist dann doch zu weit für erhebliche Teile dieser Szene.

    • #12 Oliver Gabath
      3. November 2024

      Ist der Schaden für Rußland nicht weit größer für die eigene Machtposition als der Vorteil durch möglichen Gewinn von Territorien?

      Das ist die Frage. Ist es wirklich so? Ich glaube, aus Putins Sicht zählt nur “Zustand nachher = Landmasse X + ε” > “Zustand vorher = Landmasse X”. Dass Russland dafür gerade seine Vergangenheit und Zukunft verbrennt ist ein Preis, den er offensichtlich gewillt ist, zu bezahlen.

      Imperien gründen sich keineswegs nur auf Gewalt, sie brauchen eine übergeordnete Idee, und da hat sich Rußland eher einen Bärendienst erwiesen mit diesem Krieg.

      Hervorragender Punkt. Langfristig hast Du wahrscheinlich recht, aber für den Moment ist Russland im Zuckerschock: Wirtschaftswachstum trotz Sanktionen, steigende Reallöhne, Landgewinne, etc. Augenscheinlich läuft es gut und da Wirtschaft nicht nur 50, sondern 95 % Psychologie ist, wird das auch noch eine ganze Weile so weitergehen. Bis sich die harten Proleme wie Inflation, schwindelerregend hohe Leit- und Anleihezinsen, sinkende liquide Mittel und der demographische Hammer auswirken, werden gegebenenfalls noch ein paar Jahre vergehen.

      Auch hat Rußland, teilweise zumindest, verbrannte Erde hinterlassen bei denjenigen in Europa, die in Putin eine Alternative sahen zu einer westlichen Welt deren Form sie zunehmend ablehnen- einen Krieg zu unterstützen, der Weg ist dann doch zu weit für erhebliche Teile dieser Szene.

      Der Meinung bin ich nicht. Ich denke vielmehr, dass es viele in Europa gibt, die finden das gut und wollen, dass Russland gewinnt. Die Forderung nach mehr Diplomatie und weniger Waffen geht ja immer nur explizit and die Unterstützer der Ukraine. Dass Russlands Verhandlungsbasis nach wie vor de facto komplette Unterwerfung bedeutet, wird genauso wenig behandelt, wie die lange Liste von Verbrechen, die die russischen Besatzer verübten und verüben. Ich glaube nicht, dass Unwissenheit dafür der Grund ist. Es wird ja sogar ignoriert, dass es Russland war, das im Frühjahr und Sommer 2021 nicht mehr Gas liefern wollte und in dieser Zeit die Großhandelspreise angefangen haben zu steigen. Ein Dreivierteljahr vor dem Krieg. Ich kann mir das nicht anders erklären, als dass die diesen Krieg oder vielmehr die russischen Eroberungspläne unterstützen. Den Krieg selbst finden die vermutlich tatsächlich schlecht, aber nur, weil Russland nicht durchmarschieren kann.

  10. #13 DH
    3. November 2024

    ““Zustand nachher = Landmasse X + ε” > “Zustand vorher = Landmasse X”. Dass Russland dafür gerade seine Vergangenheit und Zukunft verbrennt ist ein Preis, den er offensichtlich gewillt ist, zu bezahlen.”
    Schöne Gleichung. Sehe ich ähnlich, die Interessen Putins und die Russlands sind nicht dieselben und in vielen Punkten unvereinbar.
    Zuckerschock ist eine passende Analogie, auch hier die kurzfristige Denkweise des Systems Putin, wohl auch weil er und andere sofort strafrechtliche Verfolgung zu fürchten hätten bei einem echten Regimewechsel (der allerdings auch nach hinten losgehen kann, je nachdem was danach käme).
    ” Den Krieg selbst finden die vermutlich tatsächlich schlecht, aber nur, weil Russland nicht durchmarschieren kann.”
    Diese Leute gibt es nicht zu knapp und ich bin selbst immer wieder erschrocken über diese Entweder-Oder-Sichtweise, als ob man die Politik und den aktuellen Zustand des Westens nicht auch dann (scharf) kritisieren kann, wenn man den “Erlöser” nicht im Osten sieht.
    Interessanterweise begeht diese Szene einen sehr amerikanischen Fehler, den Feind meines Feinds für meinen Freund zu halten, und das in einer Szene die auch oft sehr anti-amerikanisch ist.
    Ähnliche, oft noch naivere Haltungen gibt es auch China gegenüber.
    Dennoch gibt es auch andere Teile nach meinem Eindruck.
    Sowohl Marine LePen als auch Meloni haben quasi über Nacht begriffen daß sie sich schleunigst von ihrer Sympathie für Putin abwenden müssen, und sei es nur um die eigenen Machtoptionen nicht zu gefährden.
    Ohne ein Fan der Dame zu sein, würde ich LePen sogar zutrauen, daß sie das auch inhaltlich ernst meint, immerhin hat sie mal gesagt, “der zweite Weltkrieg war eine scheußliche Sache”, und damit seinerzeit den Bestand ihrer Partei riskiert (weil das den Bruch mit ihrem Vater beschleunigt hat).

    • #14 Oliver Gabath
      11. November 2024

      Schöne Gleichung. Sehe ich ähnlich, die Interessen Putins und die Russlands sind nicht dieselben und in vielen Punkten unvereinbar.

      Objektiv mag das so sein, aber ist das nicht eine ziemlich westliche Sicht auf die Dinge? Vergleiche den Winterkrieg. In jeder westlichen Demokratie der 1930er Jahre hätte ein Verlustverhältnis von 5:1 bei Menschen und nicht selten 50:1 beim Material für die Eroberung ein bisschen unfruchtbaren Landes und zerstörter Industrie eine tiefe Krise ausgelöst. Objektiv sind beide Länder schwächer, ärmer und wütender aus dem Krieg herausgekommen. Aus sowjetischer Sicht war es ein Sieg. Und nicht nur das: Hintergrund und Vorspiel zum Ukraine-Kriege lesen sich in weiten Teilen wie vom Winterkrieg abgeschrieben. Ich fürchte, so muss man denken, um Russlands Handlungen und Haltung zu verstehen.

      Interessanterweise begeht diese Szene einen sehr amerikanischen Fehler, den Feind meines Feinds für meinen Freund zu halten, und das in einer Szene die auch oft sehr anti-amerikanisch ist. Ähnliche, oft noch naivere Haltungen gibt es auch China gegenüber.

      Und wie. China (und andere, Indien zum Beispiel), warten vor allem ab, schauen zu, lächeln jeden an, der mit ihnen darüber spricht und verfolgen ihre eigenen Ziele. Da sich die westliche sogenannte Wertegemeinschaft nicht dazu durchringen kann, die Ukraine materiell und funktionell so auszurüsten, dass sie Russland und seine Verbündeten aufhalten kann, dürfte in Beijing und Mumbai nicht mehr die Frage sein “Lohnt sich Gewalt?“, sondern “Wie sehr lohnt sich Gewalt?