Angenommen wir haben ein Stück Rohrleitung. Das muss nicht mal eine sicherheitsrelevante Rohrleitung sein, nehmen wir ruhig ein Stück Otto-Normal-Stahlrohr nach EN 10220 an. Diese Rohrleitung wurde irgendwann um 1985 eingebaut, bevor der Sicherheitsbehälter geschlossen wurde. Die Montage war damals kein Problem und die Demontage ist heute kein Problem; man kann sie ja einfach zerschneiden. Jetzt will man sie doch wieder montieren, weil man sie für den Weiterbetrieb braucht. Kein Problem, denkt man und zerlegt sie in einzelne Segmente, die durch irgendeine Art der Verbindung zusammengefügt werden. Dann schaut man in die zugrunde liegende Norm wie schwer das Rohr für die Berechnung anzunehmen ist und findet, dass man alle 2 Meter einen Halter braucht. Dazu muss man den Stahlbau anpassen, auf dem das Rohr liegt. Also gibt man seinem 3D-Modellplaner den Auftrag, das mal darzustellen. Der Fragt seinen Bauplaner wegen der Geometrie des Stahlbaus an. Der schaut sich die Massen an, konsultiert seine aktuelle EN 1090 und was er sonst noch braucht und legt den Stahlbau entsprechend aus. Dabei fällt ihm auf, dass ja nicht nur dieses Rohr, sondern auch noch Kabeltrassen über denselben Stahlbau laufen. Er fragt seinen PLT-Planer und der sagt ihm, dass eine davon heute für Funktionserhalt nach DIN 4102-12 ausgelegt sein muss. Das heißt zugelassenes Kabelträgersystem mit definierten Höchstspannweiten und wenn alles fertig ist, muss genügend Platz sein, damit um die ganze Trasse noch ein Kasten aus Promat gebaut werden kann. Dazu müssen zwei weitere Rohrleitungen verschoben werden, denn eine Kabeltrasse muss mindestens einseitig erreichbar sein, aber dazu ist auf dem neuen Stahlbau noch kein Platz vorgesehen, also noch mal planen, dann zurück zum 3D-Planer, dann zum Rohrleitungsplaner, PLT-Planer, etc. etc.. Soweit ist das ein ganz normaler iterativer Prozess, der zur Planung einer Anlage gehört.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass es kein Neubau ist. Das umbaute und damit zur Verfügung stehende Volumen ist gegeben, also kann man vielleicht gar nicht mehr Stahl einbauen (Dass der Stahlbau ja auch kleinteilig genug sein muss haben wir noch gar nicht berücksichtigt). Der Untergrund muss tragfähig sein (und ist vielleicht auch noch eine WHG-Fläche, in die man nicht einfach bohren darf), der Betonbau des Bestands darf nicht dem neuen Stahlbau im Weg sein, die Durchbrüche für Rohrleitungen und Kabel in den Wänden müssen immer noch erreichbar sein und so weiter. Jede Menge Kleinigkeiten und Unwägbarkeiten. Und jedes Mal die bange Frage, ob die neu ausgelegten Bauteile sich zusammenfügen oder die baulichen Gegebenheiten einen Strich durch die Rechnung ziehen. Die Radikallösung, den Beton abzustemmen und ein Loch in den Sicherheitsbehälter zu schneiden schwebt schnell im Raum und ist man einmal so weit und lässt es kalkulieren und guckt dann aufs Preisschild, dann wird die Kosten/Nutzen-Relation schnell ziemlich düster.

Der Neubau einer Anlage ist nicht einfach. In keiner Branche. Wär’s einfach, könnt’s jeder. Eine Altanlage in allen Belangen auf Stand der Technik zu bringen, damit eine Jahrzehnte alte, erloschene Betriebsgenehmigung durch eine neue ersetzt werden kann, ist nicht viel weniger aufwändig.

Langfristige Planung

Die Hindernisse, die sich aus Genehmigungsrecht und Rückbau ergeben, lassen sich prinzipiell lösen, wenn man genügend Geld drauf wirft. Dem Geld, das sie ausgeben, stellen die Betreiber die möglichen Erlöse gegenüber. Die erwartbare Laufzeit spielt dafür eine große Rolle und dazu muss der Betreiber mangels Alternativen zwangsläufig die firmeneigene Glaskugel konsultieren.

Die deutschen Kernkraftwerke waren bei Außerbetriebnahme im Mittel etwa 34 Jahre in Betrieb, mit kleinen Abweichungen nach oben und unten. Weltweit geht der regulatorische Trend hin zu Laufzeitverlängerungen mit einem Mittel von 60 Jahren. Das ist viel Zeit, in der aufwändige Umbauten und Genehmigungsprozesse möglicherweise hohen Gewinn versprechen. Allerdings sind de facto bisher kaum Kernkraftwerke über 50 Jahre alt geworden und alle bis auf die Designs, deren Baubeginn ab Mitte der 2000er liegt, wurden noch für angedachte Laufzeiten von 40 Jahren gebaut. Das war damals eben die übliche Laufzeit eines großen Kraftwerksblocks. Die erste Frage, die sich die Betreiber vor jeder Maßnahme zum Weiterbetrieb wird stellen müssen lautet: “Bin ich mir sicher, dass die Substanz gut genug und der gesellschaftliche Rückhalt groß genug ist, um den wirtschaftlichen Betrieb so lange aufrechtzuhalten, dass die Maßnahme sich rechnet?”

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Kommentare (17)

  1. #1 hto
    21. März 2025

    @Gabath: “Die Kernenergie in Deutschland ist auf absehbare Zeit, wenn nicht entgültig, Geschichte und es gibt keinen einfachen Weg zurück.”

    Es gäbe einen einfachen Weg zurück zur Atomkraft, aber solange der kompliziert-konfuse in wettbewerbsbedingter Symptomatik bestimmt was geht, dann wohl eher nur in die Katastrophe.

    Übrigens, ich habe es drüben beim Kuhn zwar schon geschrieben: Ich war zwar Zeitsoldat, bin trotzdem KEIN Fan von Wehrpflicht, aber seit der Erfindung des Transmutationsbeschleunigers (der “natürlich” aus Kostengründen nicht zum Einsatz, aber THEORETISCH vielleicht zur vollen Kraft entwickelt wird??) bin ich Fan der Atomkraft.

    • #2 Oliver Gabath
      24. März 2025

      Es steht Ihnen frei, sich mit gleichgesinnten aus aller Welt zusammenzutun und den Transmutationsbeschleuniger zu bauen. Länder mit großem gesellschaftlichem Rückhalt gibt’s genug. Machen Sie’s, strafen Sie mich Lügen – für die Welt wär’s ein Fortschritt.

  2. #3 Ludger
    21. März 2025

    Ein Freund von uns hat als promovierter Elektroingenieur Jahrzehnte lang bei der Kernenergie, der Stromwirtschaft und der Netzauslegung gearbeitet. Bei einem gemeinsamen Urlaub hat er mich 1978 von den Vorzügen der Kernenergie versus Stromerzeugung durch Kohle überzeugt.
    Er hält den Neubau von Kernkraftwerken mittlerweile für unwirtschaftlich. Als Grund für seinen Erkenntniswandel sagte er mir, er habe nicht mit dem extremen Preisverfall der Photovoltaik gerechnet.
    Die neue Lage macht natürlich nicht nachträglich das Abschalten von zugelassenen und funktionierenden Kernkraftwerken wirtschaftlich.

    • #4 Oliver Gabath
      24. März 2025

      Die neue Lage macht natürlich nicht nachträglich das Abschalten von zugelassenen und funktionierenden Kernkraftwerken wirtschaftlich.

      Klar, aber das ständig zu lamentieren bringt uns nicht weiter, wenn der Weg zurück de facto verschlossen ist.

  3. #5 Mr Orange
    22. März 2025

    Viele Zulassungen aus dem Bauwesen sind für AKW nicht anwendbar. Natürlich kann man die überarbeiten – viel Spaß dabei!

  4. #6 Staphylococcus rex
    31. März 2025

    Wenn ich es richtig verstehe, gibt es hier einige Zielkonflikte, die uns das Leben schwer machen.

    Es gibt Gründe möglichst große AKW zu bauen. Einerseits der Schutz des radioaktiven Materials vor Terror und Naturkatastrophen, das sind Fixkosten, die auf den Gewinn umgelegt werden müssen, zusätzlich ist nach meinem Verständnis der Wirkungsgrad höher, wenn die Dampftemperatur steigt. Andererseits steigt bei höheren Temperaturen auch die Materialermüdung bzw. Verschleiß. Dies wiederum erfordert einfache Wartungsmöglichkeiten, die im Widerspruch zur Abschirmung der Radioaktivität stehen.

    Als Folge dieser Zielkonflikte sind die aktuellen Neubauten auf europäischem Boden alles Einzelanfertigungen (“handgeschnitzt”). Um überhaupt in die Nähe der Wirtschaftlichkeit zu kommen, müßte es einen Referenzentwurf geben, der überall anwendbar ist, in Serie gebaut werden kann und Reserven z.B. für zukünftige Sicherheitstechnik im Design bietet.

    Bei der Verlängerung der Laufzeiten sehe ich als zusätzliches Problem die diskontinuierliche Arbeitsweise der AKW. Die Brennstäbe sind Energiequelle, Heizquelle und Abfallbehältnis, in größeren Abständen muss das AKW zum Wechsel der Brennstäbe heruntergefahren werden (wenn ich es richtig gelesen habe, arbeiten AKW mit einer Mischbeladung alter und neuer Brennstäbe?), eine evtl. Verlängerung muss rechtzeitig vor einem neuen Beladungszyklus/Wartungszyklus geklärt werden.

    • #7 Oliver Gabath
      27. Oktober 2025

      Du sprichst da viele Dinge an, die alle richtig sind. Deswegen versteh meine Worte dazu nicht als Richtigstellung, sondern Ergänzung:

      Es gibt Gründe möglichst große AKW zu bauen. Einerseits der Schutz des radioaktiven Materials vor Terror und Naturkatastrophen, das sind Fixkosten, die auf den Gewinn umgelegt werden müssen

      Das ist klassischer Weise so. Bei Chemieanlagen gab es mal einen Trend zur echten Worldscale-Anlage, die den Weltmarkt bedienen kann. Im Moment geht der Trend hin zur Region-Scale, die eine Weltregion (klassischerweise ungefähr entsprechend den Kontinenten) versorgt. Bei Kernkraftwerken ist es nicht anders. Trotz der seit vielen Jahren viel besprochenen Small Nuclear Reactors, sind die Neubauten zurzeit und auf absehbare Zeit eher größer als kleiner.

      zusätzlich ist nach meinem Verständnis der Wirkungsgrad höher, wenn die Dampftemperatur steigt. Andererseits steigt bei höheren Temperaturen auch die Materialermüdung bzw. Verschleiß. Dies wiederum erfordert einfache Wartungsmöglichkeiten, die im Widerspruch zur Abschirmung der Radioaktivität stehen.

      Die Dampftemperatur lässt sich bei Druckwasserreaktoren prinzipbedingt kaum über ca. 320 °C steigern, weil man die kritische Temperatur von leichtem Wasser nicht überschreiten darf (Das Wasser im Reaktor muss bei diesem Reaktortyp immer flüssig sein). Nukleare Überhitzung ist möglich, aber sehr umständlich. Hat bisher noch niemand wirklich in den Griff gekriegt. Siedewasserreaktoren könnten überkritisch betrieben werden, aber das ist reaktorphysikalisch nicht einfach und der Typ an sich ist in den letzten Jahrzehnten aus der Mode gekommen.

      Als Folge dieser Zielkonflikte sind die aktuellen Neubauten auf europäischem Boden alles Einzelanfertigungen (“handgeschnitzt”). Um überhaupt in die Nähe der Wirtschaftlichkeit zu kommen, müßte es einen Referenzentwurf geben, der überall anwendbar ist, in Serie gebaut werden kann und Reserven z.B. für zukünftige Sicherheitstechnik im Design bietet.

      Wenn zwei Anlagen gleicher Bauart an zwei unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten gebaut werden, werden beide am Ende Unikate sein. Das hat nichts mit der Kerntechnik zu tun, sondern damit, dass schon bei unterschiedlicher Anordnung der Gebäude infolge anderer baulicher Gegebenheiten ein Haufen statischer Berechnungen, z.B. für Rohrleitungen nicht mehr passen, dass Kabel anders ausgelegt werden müssen, etc. Außerdem ändern sich mit der Zeit Normen, Gesetze, die zur Verfügung stehende Technologie und Schlüsselpersonal. Eine gewisse Standardisierung ist möglich und wird auch überall angewendet, aber das Grundproblem bleibt leider auch gleich.

      Bei der Verlängerung der Laufzeiten sehe ich als zusätzliches Problem die diskontinuierliche Arbeitsweise der AKW. Die Brennstäbe sind Energiequelle, Heizquelle und Abfallbehältnis, in größeren Abständen muss das AKW zum Wechsel der Brennstäbe heruntergefahren werden (wenn ich es richtig gelesen habe, arbeiten AKW mit einer Mischbeladung alter und neuer Brennstäbe?), eine evtl. Verlängerung muss rechtzeitig vor einem neuen Beladungszyklus/Wartungszyklus geklärt werden.

      Völlig richtig und war auch einer der Gründe, warum die deutschen Kernkraftwerke 2023 schwierig weiterbetrieben werden konnten (Dass die Laufzeit ja noch mal bis April 2023 verlängert wurde, auch auch noch durch das grün geführte Wirtschaftsministerium, ist irgendwie auch völlig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden). Die Anlagen selbst sind mit einer gewissen Anforderung an den Lastfolgebetrieb entworfen worden und technisch dazu in der Lage, aber man hätte im Grunde gleich zu Beginn des Ukraine-Krieges neue Brennelemente bestellen müssen. Ich bin der Meinung, dass das sinnvoll gewesen wäre, weniger aus praktischer Sicht, sondern als politisches Signal, aber ich verstehe auch, was für einen Rattenschwanz es nach sich gezogen hätte.

  5. #8 Oliver Gabath
    15. Mai 2025

    Interessante Nachricht:

    Das Dänische Parlament hebt das Verbot von Blei in Motorenbenzin des Neubaus von Kernreaktoren auf (Quelle)

    Im am weitesten fortgeschrittenen Energiewende-Land der Welt wird das zwar in der Praxis keine großen Auswirkungen haben, aber bemerkenswert ist es immerhin und beflügelt die Phantasie.

    Schon 2024 brachte Morten Messerschmidt die Idee aufs Tapet, das deutsche Kernkraftwerk Brokdorf zu kaufen und wieder in Betrieb zu nehmen (Wie das auf deutschem Boden und nach deutschem Recht möglich sein soll, wäre interessat zu wissen, aber wie dem auch sei – unter der conditio sine qua non, dass er dann auch die Kosten für Rückbau, etc. übernimmt wäre das extrasuper)!

    Oder will sich Dänemark vielleicht die Möglichkeit der Beschaffung von Kernwaffen offen halten? Leistungsfähig genug ist die dänische Wirtschaft bestimmt.

  6. #9 Oliver Gabath
    16. Mai 2025

    Belgien macht den Kernenergieausstieg rückgängig (Quelle)

    Diese Meldung hat mehr Gehalt als dass Dänemark das Verbot des Neubaus aufhebt, denn Belgien betreibt zurzeit 4 Kernreaktoren im Alter von je zwei Mal 40 und 50 Jahren. Die haben vermutlich alle noch ein paar gute Jahre vor sich, wenn man genügend Geld reinsteckt.

    Dass neue Kraftwerke gebaut werden, bezweifle ich zwar, aber die laufenden weiterzubetreiben, solange es geht, macht sicher Sinn.

  7. #10 Oliver Gabath
    20. Mai 2025

    Auf der anderen Seite der Medaille:
    Taiwan vollzieht den Kernenergieausstieg Quelle)

    Gegen Mitternacht wurde das Kernkraftwerk Maanshan-2 vom Netz genommen und damit der letzte Reaktor in Taiwan in den Hot-shut-down versetzt. Jetzt beginnt die Nachbetriebsphase.

    Im PRIS wird er allerdings nicht auftauchen. Wie alle Reaktoren Taiwans.
    Kleiner Edit: Der Reaktor taucht doch auf, zusammen mit den anderen Reaktoren Taiwans. Auf einer Seite, zu der kein Link in der Landesstatistik führt und die man nur zufällig grade einfach erreichen kann, weil er auf der Hauptseite auftaucht. “Taiwan, China”. Immerhin.

  8. #11 Staphylococcus rex
    28. Oktober 2025

    Aktuell gibt es Nachrichten über einen neuen russischen Marschflugkörper (Sturmvogel/Burewestnik) mit einer Reichweite von ca. 20 000 km.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Burewestnik_(Marschflugk%C3%B6rper)
    Das Design scheint einem früheren US-Design ähnlich zu sein:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Pluto_(Marschflugk%C3%B6rper)

    Wenn ich es richtig verstanden habe, braucht man für ein derartiges nuklear betriebenes Triebwerk ca. 50 kg angereichertes Uran, welches in einem Staustrahltriebwerk die Luft derartig erhitzt, um ohne weitere Treibstoffzuführung durch die erhitzte Luft einen kontinuierlichen Vortrieb zu erzeugen.

    Das Design hat aber auch Nachteile:
    1) Es arbeitet erst ab einer Mindestgeschwindigkeit, braucht also eine konventionelle Starthilfe
    2) Aus Gewichtsgründen gibt es praktisch keine Isolierung, es produziert bereits während des Fluges radioaktiven Abfall
    3) Es ist ein “Wegwerfartikel”, am Ziel hat es den Effekt einer “schmutzigen Bombe”, kann also nur für den Transport von Kernwaffen genutzt werden, für jedes andere Einsatzscenario ist der politische Schaden größer als der militärische Nutzen
    4) Der Flugkörper soll dicht über dem Boden knapp unter der Schallgeschwindigkeit fliegen. Das wäre unterhalb des Radars, aufgrund der Wärmespur sollte es aber aus dem All von Satelliten sichtbar sein.

    Nur so aus Neugier, liege ich mit meinen Annahmen ungefähr richtig?

    • #12 Oliver Gabath
      30. Oktober 2025

      Ich versteh nicht viel von Fluggeräten, aber der Vergleich zu Pluto drängt sich auf und ich denke, die technischen, nennen wir sie mal ‘Eigenheiten’, hast Du gut herausgestellt.

      Allerdings wurde Pluto ja nicht aufgrund technologischer Probleme eingestellt (auch wenn ich ziemlich sicher bin, dass die gekommen wären, hätte man die Entwicklung weitergetrieben), sondern wegen Problemen bei der Doktrin und an diesen doktrinären Nebenbedingungen hat sich seit den 1950ern nichts grundsätzliches geändert.

      Herman Kahn schreibt in On Thermonuclear War über die Bedingungen guter Abschreckung und eine davon ist “Don’t look or be too dangerous” und aus Sicht des Jahres 1960 war das auf jeden Fall eines der Probleme von Pluto. Denn die Fragen “Was kann man mit einem solchen Flugkörper machen?” und “Wie wird der Gegner reagieren?” haben erstaunlich eindeutige Antworten.

      Mit einem nuklear angetriebenen Marschflugkörper kann man im Prinzip sinnvoll nur countervalue Ziele (sprich: Großstädte) angreifen. Für einen Erstschlag ist er zu langsam, kann zu leicht verfolgt werden (vor allem in der aufkommenden Ära der fliegenden Radarplattformen). Theoretisch könnte er um Radarposten und Abwehrstellungen herumgelenkt werden, aber im Spannungsfall wäre die Radarüberwachung sowieso lückenlos und die Abwehr nicht nur stationär, sondern auch mobil in der Luft. Gleichzeitig hat er durch seine hohe Bombenlast (Pluto sollte viel Sprengköpfe tragen) extrem großes Zerstörungspotential. Entdeckt der Gegner einen Angriff, ist es logisch anzunehmen, dass es der Aufakt zu einem strategischen Atomkrieg ist.

      Meine zwei Kreuzer: Der Burewstnik ist im Wesentlichen Ausdruck eines tief sitzenden russischen Minderwertigkeitskomplexes. Man will Weltmacht sein. Man will als gefährlich wahrgenommen werden. Man will den Westen einschüchtern. Man will lieber nicht drüber reden, dass man in drei Jahren Krieg in der Ukraine den Großteil des brauchbaren Materials aus Sowjetzeiten verbraten hat und für welchen Gegenwert. Wunderwaffen waren dafür schon immer ein probates Mittel.

      Das Ding ist gefährlich, natürlich, aber nicht nur für den Westen, sondern auch für Russland selbst und alles, was es kann, lässt sich mit ICBM, konventionellen Abstandswaffen und bemannten Bombern mindestens genauso gut und mit weniger Eskallationspotential erledigen.

  9. #13 Staphylococcus rex
    30. Oktober 2025

    @ Oliver Gabath, Danke für die Rückmeldung (auch zu meinem Beitrag vom März), ich finde das Thema interessant, habe aber selbst zu wenig Fachwissen und ein Spiegel-Artikel zu diesem Thema war hinter Paywall.

    • #14 Oliver Gabath
      31. Oktober 2025

      Spannend finde ich es auch. Ich hab schon vor einigen Jahren On Thermonuclear War gelesen und kann das Buch wirklich empfehlen. Das macht mich nicht zum Experten, aber es hilft bei der Einordnung.

  10. #15 Staphylococcus rex
    5. November 2025

    Aktuell gibt es wieder Diskussionen um die Suche nach einem Endlager. Irgendwie habe ich das ungute Gefühl, dass an die Suche grundsätzlich falsch herangegangen wird.

    Bisher war der erste Schritt die Suche nach einem passenden Muttergestein (Salzstock, Granitmonolith etc.). Nur haben diese Muttergesteine aufgrund ihres natürlichen Wachstums immer irgendwelche Makel, und die geologischen Prozesse, die dieses Muttergestein geschaffen haben, sorgen auch für erhöhte Risiken für die Zukunft.

    Wenn wir hier in geologischen Zeiträumen denken, dann bestehen Gefahren für ein Endlager durch lokalen Vulkanismus, durch aktive Verwerfungslinien, durch Grundwasser und oberirdisch durch Gletscheraktivitäten im Fall einer Eiszeit.

    Was also spricht dagegen, in einer geologisch ruhigen Gegend einen großen Sarkopharg aus Beton zu bauen und diesen dann zuzuschütten. Ich denke da an die Restflächen ehemaliger Braunkohlentagebaue. Wenn es das ideale Muttergestein nicht gibt, muss man es sich eben selbst bauen. Wenn Verwerfungslinien ausreichend entfernt sind und wenn der Sarkopharg ausreichend tief verbuddelt ist, sollte dies für die nächsten Millionen Jahre ausreichen.

    Beim Beton rede ich nicht über Stahlbeton, sondern über den Beton der Römerzeit, z.B. das Pantheon. Lt. Wikipedia hat dieser Beton “selbstheilende” Eigenschaften und kann kleine Risse selbst reparieren. Damit wäre es das ideale Material für ein Bauwerk mit “Ewigkeitsanspruch”.

  11. #16 Staphylococcus rex
    7. November 2025

    Wenn man sich fragt, warum es Finnland als bisher einziges Land geschafft hat, ein Endlager zu benennen, dann liegt es zumindest teilweise daran, dass Finnland besonders günstige geologische Voraussetzungen hat. Der Baltische Schild ist seit langem geologisch wenig aktiv und damit wesentlich besser als Endlager geeignet als die Bruchschollengebirge Mitteleuropas. Grundsätzlich dürfte es außerhalb von Kratonen schwierig sein, passende Regionen für Endlager zu finden.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Kraton

    Das wiederum läßt zwei Schlußfolgerungen zu: entweder man fokussiert sich auf Kratone, dann läuft es auf multinationale Endlager hinaus. Oder man bleibt bei nationalen Lösungen, dann muss man sich das passende Muttergestein z.B. in Form eines Sarkophargs ggf. erst erschaffen.

    Ich kann mir nicht vorstellen, dass den Verantwortlichen in Deutschland diese Problematik nicht bekannt ist. Langsam hege ich die Vermutung, dass sich alle Beteiligten darin einig sind, Zeit zu schinden

    • #17 Oliver Gabath
      10. November 2025

      Ich glaube auch, genau darauf läuft es raus.

      Nach meinem äußerst begrenzten Verständnis von abgebrannten Kernbrennstoffen entstehen die meisten Probleme durch die Wärme, die sie noch für lange Zeit freisetzen (entsprechend sind gerade Spaltprodukte mittlerer Halbwertszeit unschön). Deswegen scheint die geologische Endlagerung, in was für Gestein auch immer, am besten geeignet, da auch große Wärmeleistung ausreichend gut abgeleitet werden kann.

      Aber wie Du schreibst, wird da vor allem Zeit geschunden und das nicht nur in Deutschland. Immerhin sieht es in anderen Kernenergie treibenden Ländern nicht unbedingt besser aus – abgesehen eben von Finnland – und von denen sind einige, wie z.B. Russland oder die USA bei weitem nicht so dicht besiedelt wie Mitteleuropa oder erfährt die Kernenergie so viel Ablehnung wie hierzulande.

      Klaus Traube hat schon vor fast 50 Jahren in seinen Büchern geschrieben, dass die damals schon erheblichen Kostensteigerungen beim Neubau von Kernkraftwerken gegenüber den Prototypen vor allem darauf zurückzuführen seien, dass die Wirtschaft immer mehr Kosten einpreisen muss, die der Staat vorher stillschweigend übernommen hatte. Da ich kein Manager in diesem Bereich bin, kann ich das nicht mit Argumenten dafür oder dagegen unterfüttern, allerdings nehme ich auch wahr, dass die Kosten überall steigen und das vor allem mit dem Grad der Liberalisierung des jeweiligen Energiemarkt zusammenzuhängen scheint (obiger Artikel versucht ja, gerade das plausibel zu machen).

      Meine Vermutung ist deshalb, dass es mit der Lagerungsproblematik ähnlich aussieht und die tatsächlichen Kosten deutlich nördlich dessen sind, was bisher kalkuliert und kolportiert wurde. Ein weiteres deutsches Beispiel dafür, wie gerne man das Problem in die Zukunft schiebt, ist der THTR-300 in Hamm-Uentrop, der zurzeit im ‘sicheren Einschluss’ betrieben wird. Plakativ gesagt: Man hatte die volle Windel zugeklappt und wartete erst mal ab. Ab ca. 2028 soll mit dem Rückbau begonnen werden. Die Betreibergesellschaft hat 2025 Insolvenz angemeldet. Wer auch immer das in ein paar Jahren wird ausbaden dürfen, kann sich jetzt schon meines Mitleids sicher sein.