Beträgt der Zeithorizont einige Jahre, ist das einigermaßen gut abschätzbar. Sind es Jahrzehnte, wird es schon schwieriger. Gut und schön, wenn die Betriebsgenehmigung 60 Jahre läuft und der TÜV bescheinigt, dass sicherheitstechnisch alles in Ordnung ist, aber wenn die Anlage schon mit 50 an so vielen Stellen erneuert werden muss, dass die Investitionen den erwartbaren Gewinn auffressen, nutzt sie nicht viel. Kernkraftwerke in liberalisierten Energiemärkten werden mit Gewinnerwartung betrieben und die Betreiber müssen Gewinn erwirtschaften, um zu leben.
Die Antwort mag lauten “Ja”, wie beim Kernkraftwerk Beznau in der Schweiz, das Chancen hat, dienstälteste Anlage der Welt zu werden. Sie mag aber auch lauten “Nein”, wie beim Kernkraftwerk Mühleberg in der Schweiz, das jünger war als die beiden Blöcke von Beznau, als es außer Betrieb genommen wurde. Ich wiederhole mich: Auch vor 50 Jahren haben Ingenieure nicht immer für die Ewigkeit gebaut und wie robust die Anlage wirklich ist, weiss man erst nach Jahrzehnten. Ein ehemaliger Kollege von mir, Montagemeister, dessen fachliche Expertise ich sehr schätze, pflegt zu sagen: Nur die Anlage kennt die Wahrheit und Du weisst noch gar nicht, was die sich alles ausdenkt.
Deutsche Kernkraftwerke waren zum Glück sehr robust, gehen wir also ruhig davon aus, dass mindestens die Vor-Kovois und Konvois genügend Fleisch am Knochen haben, um die Sippe satt zu machen. Dann stellt sich gleich die nächste Frage: “Gibt es Alternativen mit besserem Kosten/Nutzen-Verhältnis und/oder weniger wirtschaftlichem, technischem, regulatorischem, legislativem Risiko?” Das ist die Frage nach den Opportunitätskosten, also den virtuellen Kosten, in Form entgangenen Gewinns infolge suboptimaler Investitionen, die man als Unternehmer betrachten muss. Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, von denen alle dem Betreiber einer Anlage Gewinn versprechen, wird er sich für eine mit gutem Kosten/Nutzen-Verhältnis und geringem wirtschaftlichen Risiko entscheiden. Bei beidem schneiden im Rückbau befindliche Kernkraftwerke mit erloschener Betriebsgenehmigung nicht gut ab.
Aber auch wenn das Kosten/Nutzen-Verhältnis gut erscheint, bleibt die Frage nach dem gesellschaftlichen Rückhalt und damit nachgelagert dem politische Rahmen um die Kernenergie. Beides hängt erfahrungsgemäß ganz eng mit aktuellen Ereignissen zusammen. Die kommen noch mal oben auf die technischen und regulatorischen und organisatorischen Probleme drauf. Die Frage selbst schneide ich hier im Einzelnen gar nicht groß an, weil die Antwort zu unwägbar ist und ich die Vorhersage, ob in der Zukunft ein breites gesellschaftliches Bündnis sich eindeutig für die Kernenergie aussprechen und diese Entscheidung jahrzehntelang nicht ändern wird, nur mit ganz großen Fragezeichen machen würde.
Ein gutes Beispiel dafür ist Italien. Unter dem Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl hat sich die italienische Bevölkerung in einem Referendum 1987 gegen die Kernenergie entschieden. In den 2000er Jahren stieg die Zustimmung wieder. 2011 wurde ein weiteres Referendum angesetzt, in dem sich die Bevölkerung vermutlich für die Kernenergie entschieden hätte, wäre nicht die Katastrophe von Fukushima-Daiichi dazwischen gekommen. Seit den 2020ern steigt die Zustimmung wieder und die italienische Regierung prüft, wie man den rechtlichen Rahmen für die Kernenergienutzung schaffen kann, also würde die Tür sich vielleicht wieder öffnen, zumindest prinzipiell. Eingedenk der langen Bauzeit von Kernkraftwerken, würden aber auch im besten Fall rund 2 Jahrzehnte vergehen, bis die erste neue Anlage steht und wer weiss schon, was in 20 Jahren sein wird.
Betrachtet man den ganzen Zeitraum von 1987 bis heute, kann man sich vorstellen, dass unter diesen Bedingungen private Unternehmen sich nur mit gewaltigen Anreizen zum Betreib von Kernkraftwerken bewegen lassen. Und das bringt uns zu der Frage: Wenn das Wiederanfahren mit solch hohen Hürden belegt ist, wie sieht es dann mit Neubau aus?
Neubau?
Wer über den Neubau in Deutschland redet tut gut daran, den Blick in ähnlich strukturierte Energiemärkte zu werfen.
In den letzten 20 Jahren wurde in Westeuropa mit dem Bau von vier Kernreaktoren begonnen: Olkiluoto-3 in Finnland in 2005, Flamanville-3 in Frankreich in 2012 und zwei Einheiten Hinkley Point C in Großbritannien in 2018/19. Zwei weitere Reaktoren am Standort Sizewell C in Großbritannien sind so weit, dass sie in Bau gehen können, sobald die finale Investitionsentscheidung getroffen wurde (d.h. die Site wurde vorbereitet, die Baustelle teilweise eingerichtet und die Kontraktoren stehen Gewehr bei Fuß). Diese wird für 2025 erwartet. Es sind alles Druckwasserreaktoren vom Typ EPR, dem zurzeit leistungsstärksten Kernreaktor-Typ mit einer Nettoleistung um 1.600 MW.
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