Normalität, Natur oder Natürlichkeit wird gern als Konstrukt verwendet, um Dinge absolut zu setzen. Dazu gibt es diverse soziologische Diskurse. Aufgreifen möchte ich dies, weil in einem Kommentar folgendes thematsiert wurde: “Im Zusammenhang mit ihrem Ausdruck “Konstrukt” aber drängt sich auf, dass man das reelle Leben natürlich gestalten muß.”
Natürlich gestalten, heißt nichts anders als unhinterfragt, sich entwickelnd ohne dass jemand aktiv, bewusst gestaltend, eingreift, d.h. letztlich unreflektiert. (Und nein, das ist nicht als Wertung gemeint. Alle, auch die Schreiberin dieser Zeilen, hat aus gutem Grund unreflektierte Lebensbereiche. ;)) Bewusstes Gestalten wird, wie in einigen Kommentaren zu diesem Blogartikel greifbar wird, als eine Störung des üblichen, gewohnten Alltagsablaufs aufgefasst. Gut greifbar werden solche Auffassungen bzw. Gegensätze z.B. im Feld der Organisationsforschung: Jede Organisation hat eine Struktur, diese ist in den Alltagspraktiken auf ‚normal‘ gestellt. Beteiligte denken in ihrem Arbeitsalltag nicht permanent über die Strukturen nach, sondern leben mit ihnen. Ginge auch nicht anders, da unser Alltag hochgradig komplex ist und wir schlicht Dinge ausblenden müssen, um mit dieser Komplexität umzugehen. Die Komplexität lässt sich erahnen, wenn z.B. unterschiedliche Berufsgruppen aufeinander treffen. Jede hat ihre eigene Perspektive, meist gibt es noch mehrere Perspektiven im Rahmen einer kollektiven Ausrichtung, diese unter einen Hut zu bekommen, ist immer eine Herausforderung. Deshalb gibt es Berufe wie ProjektmanagerInnen, ModeratorInnen, MediatorInnen, usw.. Diese agieren als Querschnittsprofessionen übergreifend für unterschiedliche Felder bzw. Branchen und fungieren als ÜbersetzerInnen in einem sozialen Sinn.
[…] sehen wir Menschen, das, was wir zu sehen erwarten. Das trifft auch auf Wissenschaftlerinnen zu. Und manchmal dauert es über 100 Jahre, bis jemand die Augen öffnet und das sieht, was […] (aus einem Kommentar zu dem oben schon erwähnten Artikel, der auf MartinBs Blogartikel verweist)
Das trifft auf Alltagswahrnehmungen zu, da bin ich ganz der Meinung von MartinB. Das trifft auch für WissenschafterInnen von Disziplinen zu deren Gegenstand nicht das Soziale ist. Aber es gibt Menschen auf die das nicht zutrifft: Nämlich jene die sich mit dem Sozialen auseinandersetzen. Das sind bei weitem nicht nur SozialwissenschafterInnen, sondern auch Menschen im Bereich der Organisationsentwicklung, der Gruppendynamik, der Sozialarbeit, vieler therapeutischer Richtungen (wobei hier viele so stark aufs Individuum fokussieren und das Kollektive außer acht lassen) und einige mehr.
Erst wenn Strukturen hinterfragt werden, es eine Krise gibt (derzeit immer ein gutes Beispiel ;)), wird das alltäglich Gewohnte hinterfragt und z.B. Konflikte zwischen formellen und informellen Strukturen werden greifbar. Informelles und Formelles widerspricht sich häufig: Wer kennt nicht eine Organisation, wo die offzielle Chefin eine informelle Gegenspielerin hat. Oder wo der Chef auf einem Posten mit Zeitablauf sitzt und das Stammpersonal dessen Verweildauer nur aussitzen muss. Klassisches Beispiel: Politik. Jedes Ministerium mit seinen unbefristeten BeamtInnen sitzt so manche neue/n MinisterIn schlicht aus.
Oder – anderes Beispiel in dem Bereich – es kommt eine neue Chefin oder ein neuer Chef. Die Person verhält sich nicht den gewohnten Strukturen und habituellen Gepflogenheiten der Organisation gemäss. Der Umgang kommt damit in eine Krise. Etwas vorher als “normal” gesetztes wird dadurch zum Thema. Die Organisation muss in einen neuen Verhandlungsprozess treten und das Soziale neu gestalten. Ist der Prozess (fürs erste, weil Endgültigkeit gibt es schlicht nicht – etwas nach dem sich die meisten von uns aber sehnen, daher auch diese permanenten Konflikte um solche Themen) abgeschlossen, dann tritt wieder die Alltagsnormalität ein. Das Neue wird zur Gewohnheit und “natürlich” gesetzt. Auch weil wir unseren Alltag anders nicht bewältigen können, es braucht die Komplexitätsreduktion um mit unseren Anforderungen umzugehen.
Wir tendieren dazu Dinge als absolut und gegeben zu erachten. Das macht uns handlungsfähig und schneller. Hat aber eben den Nachteil, dass wir deshalb über vieles nicht nachdenken bzw. erst in einer Krisensituation oder durch einen Auslöser anfangen zu reflektieren. Mein Forschungsfeld – der Wohnbau – ist da ein großartiges Beispiel: Menschen zu fragen wie sie wohnen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das ist kein Alltagswissen, das wir gewohnt sind zu verbalisieren. Erst in besonderen Momenten – Umzug z.B. – beginnen wir Dinge die im praktischen Bewusstsein verankert sind in unserer diskursives Bewusstsein zu übernehmen und fangen an darüber zu reden. Sobald der Alltag wieder eintritt, verändert sich dieser Fokus wieder. Jede/r wird den Effekt kennen einen neue Wohnumgebung mit neuen Augen zu sehen, weil der Umzug gerade erst stattgefunden hat. Einige Wochen später ist dieser Fokus wieder weg, der Weg in die Arbeit wird “normal”, d.h. nicht mehr bewusst wahrgenommen. Wozu auch, wir kennen ihn dann ja schon.
Ich fand das in den Kommentaren zum Gwirx mit der Sprache – als kleine Replik – spannend, wie viele voraussetzen, dass eine Auseinandersetzung mit dem Sozialen an sich und die Fähigkeit zur Abstraktion von der eigenen gesellschaftlichen Position unmöglich ist. Diese Wahrnehmung, dass dem so ist, hat überhaupt erst zu dem Start des Blogs SocioKommunikativ hier bei Scienceblogs geführt. In meinen ersten beiden Beiträgen hier und hier gehe ich – in einer Metapher – darauf ein, was der Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung ist. Wie (u.a., weil hier anhand interpretativer Forschung dargestellt) gearbeitet wird, habe ich hier und hier ausgeführt.
Menschen, die sozialwissenschaftlich und prozessorientiert (damit gemeint sind Gruppen- und Organisationsprozesse, ebenso gemeint Auseinandersetzungen mit systemischen Komponenten) arbeiten, haben gelernt sich diesen Alltagspraktiken z.B. in der Forschung zu entziehen bzw. Strategien entwickelt um sich selbst in eine beobachtende Position zu bewegen. Etwas das nicht durchgehend, d.h. 24/7, funktioniert. Da helfen sozialwissenschaftliche (und andere) Methoden, die die diesbezüglichen Arbeitsweisen transparent, reliabel und valide machen. Dass das sehr stark auch mit Persönlichkeitsentwicklungen einher geht, liegt auf der Hand und macht diese Forschung auch zu recht immer wieder angreifbar. Wenn Gegenstand und Instrument deckungsgleich sind – alles Menschen, ist dieser Konflikt unvermeidbar. Trotzdem ist es gut sich ihm zu stellen. Nur weil etwas nie zu 100% möglich sein wird, heißt das nicht es gleich ganz zu lassen.
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