Manchmal fragt man sich schon, was zum Teufel man sich eigentlich gedacht hat. Mir ging es zuletzt beim Erdbeben in Nepal so. Meine allererste Reaktion auf die Nachricht von einem mag 7,8 Erdbeben in Nepal war noch vernünftig: “Das ist richtig heftig”. Das gilt um so mehr, weil sich das Erdbeben nicht in einem Meeresgraben weit weg vom Festland ereignet hat, sondern in geringer Tiefe unter dem bewohnten Festland.
Weitaus weniger vernünftig war meine Reaktion 2-3 Stunden später, als ich in Anbetracht der Nachrichtenlage zu der Meinung kam, dass sie wohl nochmal glimpflich davon gekommen sind. Die Todesopfer würden wohl “in die Hunderte und nicht in die Tausende” gehen. Das einzig Gute das man über diese Meinung sagen kann ist, dass ich sie nicht öffentlich geäußert habe.
Nun kann man versuchen zu erklären, wie es dazu kam. Eine Möglichkeit wäre zu sagen, dass ich nicht die fehlenden Informationen beachtet habe. Arthur Conan Doyle hat diese Neigung der Menschen in seiner Sherlock Holmes Geschichte “Silver Blaze” beschrieben als “the dog that didn’t bark”. Ein Ausspruch der so ikonisch für die Geschichte ist, dass ich dachte, er wäre auch ihr Titel. (Eine ganz andere, aber genauso typische Fehlleistung des menschlichen Denkapparates.)
Ich kann mir also vorwerfen, dass ich nicht die Quellen der Nachrichten kontrolliert habe, aus denen ich meine Schlüsse zog. Mir hätte auffallen müssen, dass alle Nachrichten und Bilder nur aus Kathmandu kamen und nicht aus umliegenden Ortschaften. Auf den Bildern die ich sah fiel mir etwas auf. Ältere Gebäude waren viel stärker betroffen als neuere. Aber mir fiel nicht ein daran zu denken, dass die Gebäude in Kathmandu wahrscheinlich deutlich moderner und besser gebaut sind als die im Umland.
Es war diese Quellenlage, die zu meiner völligen Fehleinschätzung führte. Aber weder ist die Quellenlage schuld, noch hätte ich irgendeine sinnvollere oder bessere Einschätzung erlangen können, wenn ich die Quellen genau analysiert hätte. Bestenfalls hätte ich das genaue Ausmaß der Informationsleere dieser Nachrichten beschreiben können.
Dabei gab es einen Ausweg aus diesem Dilemma. Und ich könnte mir deswegen in den Hintern treten, denn der Ausweg bestand in genau dem was ich selbst immer wieder allen Journalisten predige, ob sie es hören wollen oder nicht.
Die Details von Nachrichtenmeldungen sind zunächst völlig egal.
Das wichtigste ist das, was man ganz grundlegend über den Gegenstand weiß, über den man berichten will. Max Wyss, ein Schweizer Erdbebenforscher, lieferte dazu ein hervorragendes Beispiel, wenn auch ein äußerst ernüchterndes. Er schätzt die Zahl der Opfer auf einige Zehntausend und ich finde seine Argumentation erschreckend nachvollziehbar. (Was er hier de fakto tut, ist die Lösung eines Fermi Problems. Also ein Schätzproblem bei dem man im Prinzip zu wenig Informationen hat. Das klassische Beispiel (wohl aus den 30er/40er Jahren) lautet: Wieviele Klavierstimmer gibt es in Chicago?)
Hätte ich meine Meinung veröffentlicht, könnte ich mich jetzt für meine blödsinnige Einschätzung damit entschuldigen, dass ich kein Erdbebenexperte bin. Das ist gängige Praxis. Aber das ist wirklich keine Entschuldigung. Fakt ist:
- Ich hatte bis dahin keine Ahnung wieviele Menschen in dem Erdbebengebiet, geschweige denn in Nepal, leben (meine Vorstellung war eine Größenordnung niedriger als der tatsächliche Wert). Schon dafür gibt es keine Entschuldigung.
- Ich hatte mir zu keinem Zeitpunkt eine ernsthafte geographische Vorstellung gemacht, wie groß das betroffene Gebiet ist und welche Intensität das Erdbeben dort hatte.
- Ich hatte mir zu keinem Zeitpunkt eine Landkarte mit der Bevölkerungsdichte von Nepal, insbesondere im betroffenen Gebiet, angeschaut.
- Ich hatte zu keinem Zeitpunkt auch nur gedanklich versucht, Anhaltspunkte für einen Vergleich mit anderen Erdbeben unter ähnlichen Umständen zu finden.
Jeder dieser vier Punkte ist verurteilenswert. Jeden einzelnen dieser Schritte habe ich in ähnlichen Fällen schon durchgeführt. Es hat mir wirklich an jedem Punkt an einer sinnvollen Basis für irgendeine Aussage gefehlt und dennoch sind mir erste Zweifel erst gekommen, als sich die Zahl der gemeldeten Todesopfer im Laufe der Zeit unaufhörlich der 1000er Marke näherte. Die ganze Episode hat also nur wenige Stunden gedauert. Dennoch gibt es keinen Grund weshalb eine ganz ähnliche Fehleinschätzung in einem anderen Fall nicht Monate oder Jahre ganz unwidersprochen in meinem Kopf bestehen bleiben sollte.
Würde mir das Fehlen jedes einzelnen dieser Schritte in einem Zeitungsartikel oder Fernsehbeitrag auffallen, würde mich das zumindest in Versuchung führen, zu einer Tirade gegen die Unfähigkeit der Journalisten anzustimmen … und nun habe ich den selben Mist gemacht und alles was mich vor einer Blamage geschützt hat ist die Tatsache, dass ich den (metaphorischen) Mund gehalten habe.
In diesem Sinne … was geht:
Bei dürftiger Nachrichtenlage sinnvolle Einschätzungen abzugeben.
Was scheinbar nicht geht:
Sich immer selbst an die eigenen Ratschläge halten.
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