Der natürliche Reaktor von Oklo hat die Phantasie von so manchen Leuten angeregt. Einer davon war der Roman-Autor Charles Stross. In seiner Romanreihe “The Merchant Princess” gibt es eine Parallelwelt zur Erde, in der die Erde noch nicht so alt ist. Es ist noch genug Uran-235 in dem natürlichen Uranerz enthalten, dass normales Wasser ausreicht um eine Kettenreaktion zu ermöglichen.
Man stelle sich eine solche Welt vor. Wahrscheinlich wäre es schon viel eher zu einer Kettenreaktion aus versehen gekommen. Das Uranerz Pechblende kennt man seit dem 16. Jahrhundert. Früher oder später wäre es wohl aus versehen zu einer Kettenreaktion gekommen. Aufgehäufte Pechblende hätte irgendwann in zu viel Wasser gestanden und das Wasser hätte angefangen zu kochen. Je nach Umständen hätte es Sekunden, Minuten oder Stunden gedauert, bis das Schauspiel zu ende gewesen wäre.
Die Umstehenden wären kurze Zeit später krank geworden und das schwarze Material hätte wohl sofort einen Ruf als dämonische oder magische Substanz bekommen.
In unserer Welt war das alles etwas schwieriger. Es brauchte planvolles Handeln und keinen Unfall, um die Kettenreaktion herzustellen. Die technischen Voraussetzungen um überhaupt einen Kernreaktor bauen zu können, waren größtenteils schon gegeben, als das Flugzeug erfunden wurde. Das Geflecht der neuen Technologien des 19. Jahrhunderts ermöglichte vieles und es war nur eine Frage der Zeit, bis es umgesetzt würde.
Die Photographie ermöglichte die Entdeckung der Radioaktivität – durch einen bloßen Zufall. Ein radioaktives Mineral lag auf einer Photoplatte, die nach der Entwicklung schwarze Flecke zeigte. Die Chemie war weit genug entwickelt um fast alle Elemente voneinander zu trennen und auch unbekannte zu entdecken. Das war der eigentliche Knackpunkt für den Bau des ersten Kernreaktors. Man musste wissen, dass es überhaupt möglich ist und was dafür zu tun ist. Der Rest der notwendigen Technik war schon längst erfunden und anderswo in Gebrauch.
Große Mengen elektrischer Strom ermöglichten die Herstellung von Wasserstoff durch Elektrolyse von Wasser, was Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus gebräuchlich war als Ausgangsstoff des Haber-Bosch-Verfahrens zur Herstellung von Düngemitteln und Sprengstoffen aus Ammoniak. Dabei fiel auf, dass das Wasser, das bei der Elektrolyse zurück blieb, schwerer war als gewöhnliches Wasser. Es hatte aber keine Verunreinigungen und bald fand man heraus, dass der Wasserstoff in diesem Wasser ein anderes Isotop war – Deuterium – als in gewöhnlichem Wasser. Der Strom ermöglichte auch das erreichen von hohen Temperaturen und so wurde 1897 auf der Suche nach einer Möglichkeit Diamanten herzustellen, ein Verfahren zur künstlichen Herstellung großer Mengen von reinem Graphit gefunden.
Nach der Entdeckung des Neutrons und der Untersuchung seiner Eigenschaften und der Entdeckung der Kernspaltung von Uran, wurde bald klar, dass man eine selbst erhaltende Kettenreaktion auf einem von drei Wegen erreichen konnte. Man kann das Uranisotop 235 so weit anreichern, dass die Kettenreaktion trotz der Verluste von Neutronen bei der Moderation mit normalem Wasser stattfindet. Oder man kann das U-235 noch weiter anreichern, wenn man schon dabei ist, bis die Kettenreaktion auch ganz ohne Moderation stattfindet.
Nun war zunächst nicht klar, ob die Anreicherung von U-235 überhaupt mit endlichem Aufwand machbar war und so suchte man nach Alternativen. Man braucht einen Moderator, der möglichst wenig Neutronen absorbiert und dabei aus möglichst leichten Atomen besteht. (Um so leichter die Atome sind, um so mehr Energie hat das Atom nach der Kollision mit einem Neutron. Um weniger Kollisionen man braucht bis die Neutronen abgebremst sind, um so kleiner kann der Reaktor sein und um so größer darf die Wahrscheinlichkeit sein, dass bei einer Kollision doch ein Neutron absorbiert wird.)
Wie hinlänglich bekannt ist, kamen nur zwei Stoffe ernsthaft in Frage: Graphit und schweres Wasser.
Schweres Wasser ist besser, aber auch viel teurer und es muss extra dafür hergestellt werden. Zumindest muss es bei der Elektrolyse zur Seite gestellt werden. (Ich überlasse es dem geneigten Leser die Implikationen für die Nutzung der Elektrolyse als Stromspeicher zu finden.) Dafür hat man einen relativ kompakten Reaktor und kommt mit etwa 2-3 Tonnen natürlichem Uran aus.
Der erste Reaktor der Welt war nicht so kompakt. “Chicago Pile One” CP-1 Er brauchte knapp 40 Tonnen Uran und knapp 4000 Tonnen Graphit. (Die Zeichnung stammt aus der Wikipedia und ist zum Beispiel auch in “The first reactor” zu finden. Es gibt viele englischsprachige Quellen dazu, im deutschen habe ich keine Ahnung. Die einschlägigen Wikipedia Artikel und eine Suche auf “Google Scholar” liefern fast alles denkbare.)
Der Reaktor diente nur zu Testzwecken um zu sehen, ob die Kettenreaktion wie geplant erreicht werden würde. Man ging sehr vorsichtig bei der Konstruktion vor. Nach jeder weiteren Schicht aus Uran und Graphitblöcken wurden die Kontrollstäbe gezogen und gemessen, wie weit man sich der kritischen Masse genähert hat, dem Punkt mit k=1.
Vor diesem Punkt fungiert der Reaktor nur als Neutronenverstärker. Mit k=0,5 würden aus 100 Neutronen, die spontan im Reaktor entstehen, 200 Neutronen werden. Mit k=0,9 würden es 1000 Neutronen werden. Mit k=0,99 würden es 10.000 Neutronen werden und so weiter. Wobei bekannt war, dass ein Teil der Neutronen immer mit einer gewissen Verzögerung entsteht. Man kann sich also langsam dem Wert k=1 nähern und ihn auch überschreiten, ohne katastrophale Auswirkungen. Als es soweit war, hatte Enrico Fermi genug Zeit die Instrumente zu beobachten und mit dem Rechenschieber nachzurechnen, ob der Anstieg der Neutronenzahl auch wirklich exponentiell war.
Man hat die Leistung des Reaktors nie höher als 200 Watt steigen lassen. Aufgrund der Strahlungsmessung im Betrieb hat man beschlossen, ihn anderswo mit passendem Strahlungsschild neu aufzubauen. Die Strahlung war nun nicht übermäßig groß. Aber wenn man vor hat, über Monate oder Jahre direkt an und auf dem Reaktor bei einer Leistung von einigen Kilowatt zu arbeiten, muss man andere Sicherheitsvorkehrungen treffen. Der Reaktor stand zu diesem Zeitpunkt in einer Basketball Halle in Chicago und da das Projekt geheim bleiben sollte, war der Schritt ohnehin unvermeidlich. Wegen der geringen Leistung war das Material des Reaktors nicht radioaktiver als zuvor, womit der Umzug keine Probleme bereitete.
Nachdem die Tests mit diesem Reaktor zufriedenstellend waren, wurde der nächste Reaktor gebaut, der X-10. Ein Luftgekühlter 10MW Reaktor, nicht völlig unähnlich dem Reaktor, der in Sellafield 15 Jahre später traurige Berühmtheit erlangte. Die Luftkühlung war notwendig. Trotz der 4000 Tonnen Masse litt der erste Reaktor unter Überhitzungsproblemen und das obwohl seine Leistung kaum größer als die eines herkömmlichen Wasserkochers war.
Keiner dieser Reaktoren hatte den Zweck, Energie nutzbar zu machen. Die Wärme die bei der Kettenreaktion entstand, war vielmehr ein lästiges Nebenprodukt. Das Ziel war die Untersuchung der Eigenschaften von Uran und Plutonium (und auch einiger Proben Thorium), sowie der Eigenschaften des Reaktors selbst und der darin stattfindenden Kettenreaktion. Letztendlich dienten die Ergebnisse zum Bau von zwei großen 250MW Reaktoren, in denen das Plutonium für den Bau der ersten Atombomben erbrütet wurde. (Man vergleiche die Leistung mit dem nordkoreanischen 20MW Reaktor in Yongbyon.)
An keiner Stelle dieser Entwicklung musste Uran angereichert werden, was heute so oft als Indikator für den Bau von Atomwaffen gilt. Tatsächlich stellte sich dieser Weg ganz ohne Anreicherung, der vom ersten Prototypen des Reaktors kaum mehr als drei Jahre brauchte, als der erfolgreichste für den Bau von Kernwaffen heraus. Man sollte diese Tatsache immer im Kopf behalten. Die Grundlage dieser Technik sind alt und inzwischen fast schon primitiv.
Innerhalb von 3 Jahren war es in den USA mit großem Aufwand möglich, nicht nur die ersten Atombomben zu bauen. Man musste nebenbei auch alle wissenschaftlichen Grundlagen dafür zu entwickeln und wusste am Anfang nicht, auf welchem Weg man zum Ziel kommen würde oder ob das Ziel des Baus einer Atombombe überhaupt realistisch war. Das Manhattenprojekt umfasste eine ganze Reihe von Möglichkeiten die gleichzeitig verfolgt wurden.
Man konnte nicht zielstrebig direkt auf dem kürzesten Weg dahin kommen, sondern machte Fehler und verrannte sich in Sackgassen. Das alles ist heute anders. Man kennt die Möglichkeiten, man kennt die physikalischen und chemischen Grundlagen und die Technik ist inzwischen allgemein weiter fortgeschritten. Der Aufwand solche Waffen von Null auf, ohne Hilfe von außen, zu bauen, ist heute bei weitem geringer. Jeder halbwegs organisierte Staat oder staatsähnliches Gebilde kann es tun. Im Notfall, mit großem Aufwand, auch viel schneller als es die USA in den Jahren 1942 bis 1945 taten. Und Uranvorkommen sind auch nicht selten, wenn ein niedrigstmöglicher Preis keine Rolle spielt.
Man sollte deshalb dringend die Folgen überdenken, bevor man heute ganze Staaten bedroht oder Völker von zig Millionen Menschen an den Rand der Verzweiflung und des Untergangs bringt. Denn wenn die Not zu lang zu groß war, dann kommt irgendwo der Punkt, an dem die Regierung eines Staates und seine Bevölkerung nicht mehr die Selbsterhaltung des Regimes oder Selbstbestimmung der Bevölkerung als Ziel haben, sondern blinde Rache.
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