In der Raumfahrt gibt es manchmal ungewöhnliche Umstände, die zu ungewöhnlichen Lösungen führen. Hier ist eine Geschichte solcher Umstände.

1998 ist Asiast-3 mit einer Protonrakete von Baikonur aus gestartet. Der Satellit sollte in einen geostationären Orbit kommen, wo Satelliten von der Erdoberfläche aus gesehen immer an einem Punkt im Himmel verharren. Dazu muss die Flugbahn des Satelliten nicht nur eine kreisrunde Umlaufbahn in einer Höhe von knapp 36000km sein, sondern vor allem auch Parallel zum Äquator sein. Ansonsten würde der Satellit von der Erde aus gesehen am Himmel eine große Schleife nach Norden und wieder zurück nach Süden fliegen. Dann würde es aber nicht mehr reichen, eine einfache Satellitenschüssel fest zu montieren, man bräuchte einen Motor mit dem die Satellitenschüssel hinter dem Satelliten her fahren kann.

Dieser Teil der Anforderungen hat es in sich. Denn bei einem Start der so weit nördlich des Äquators stattfindet, kann eine Rakete nur in eine stark geneigte Umlaufbahn gelangen. Die Rakete startet geradewegs nach Osten, um die Erdrotation mitzunehmen. Aber es liegt in der Natur jeder Umlaufbahn, dass sie immer wieder an den Ort zurück kommt, an dem gestartet ist. Wenn der Punkt weit nördlich liegt, dann muss auch die Bahn immer wieder dorthin zurück kommen – zumindest bis man ein Korrekturmanöver fliegt.

Satelliten die in den geostationäre Orbit fliegen tun das immer in mehreren Schritten. Zuerst wird der Satellit zusammen mit einer Raketenstufe in einen Parkorbit gebracht. Ein niedriger Orbit auf dem man wartet, bis der gewünschte Zielpunkt auf dem Geostationäre Orbit erreichbar ist. Das erhöht die Flexibilität beim Start. Ohne den Parkorbit gäbe es nur einen Startzeitpunkt und kein Startfenster für die Rakete.

Danach kommt der Satellit in den Übergangsorbit. Dazu wird tief unten, auf dem Parkorbit, das Raketentriebwerk gezündet. Das sorgt dafür, dass die Umlaufbahn zunächst einmal zu einer langgestreckten Ellipse wird. Am unteren Teil kommt sie der Erde bis auf etwa 200km nah, aber der höchste Punkt liegt schon bei knapp 36000km.

Wenn man auf dem Äquator gestartet ist, ist es damit schon fast getan. Der Satellit wird freigegeben und muss mit seinen eigenen Triebwerken dafür sorgen, dass aus der elliptischen Bahn eine Kreisbahn wird. Wenn man dort nicht gestartet ist, muss erst noch die Bahnneigung korrigiert werden.

Das Standardmanöver …

Dazu fliegt die Raketenstufe samt Satellit bis zum höchsten Punkt der Umlaufbahn, wo die Fluggeschwindigkeit am kleinsten ist. Dann werden die Triebwerke so ausgerichtet, dass der Satellit in Flugrichtung abgebremst wird und gleichzeitig in Richtung der neuen Bahnebene beschleunigt. Letztlich muss man die Differenz zwischen den beiden Vektoren der Flugrichtung ausgleichen. Entsprechend braucht man eine Geschwindigkeitsänderung, die dem Faktor 2*sin(Δi / 2) der aktuellen Geschwindigkeit entspricht. Wobei Δi die Änderung der Bahnneigung (Inklination) ist.

Wie man leicht sieht, braucht man für ein Δi von 180 Grad das doppelte der aktuellen Geschwindigkeit. Das ist der Fall, in dem man den Satelliten mit dem Triebwerk erst zum Stillstand bringt und dann in entgegengesetzter Richtung wieder auf die ursprüngliche Geschwindigkeit bringt. Um so langsamer sich der Satellit mit seiner Raketenstufe dabei bewegt, um so weniger Treibstoff nimmt das in Anspruch. An dem Punkt bewegen sie sich mit 1,6km/s – in Erdnähe sind es dagegen knapp 10km/s. Deswegen kommt dieses Manöver auch zuletzt.

So sieht das hundertfach durchgeführte Standardmanöver aus. Der Satellit kommt in die Parkbahn, von dort in eine lange Ellipse, dann wird deren Bahnneigung korrigiert und zuletzt sorgt der Satellit aus eigener Kraft dafür, dass er in eine Kreisbahn kommt.

… ging leider schief.

Das ging aber bei AsiaSat-3 schief. Das Triebwerk der dritten Stufe der Proton Rakete setzte beim letzten Manöver aus und der Satellit war in einer Bahn mit hoher Bahnneigung gestrandet.

Nun besteht so ein Satellit zu mehr als der Hälfte aus Treibstoff. Der wird einmal gebraucht um auf die Kreisbahn zu kommen und einmal, um sich im geostationären Orbit zu halten. Die Gravitation von Mond und Sonne ziehen etwas an den Satelliten dort, so dass sie ständig Treibstoff brauchen. Es reicht also nicht aus, den Orbit zu erreichen, wenn dafür der gesamte Treibstoff verbraucht wird.

Deshalb wurde Asiasat-3 aufgegeben. Die Besitzer riefen die Versicherung an und die hat den Schaden auch ersetzt. Damit wurde die Versicherung der neue Besitzer des Satelliten und was dann geschah, war eine Glanzstunde der Raumfahrt, in deren Licht sich auch die Schattenseiten dieser Industrie zeigten.

Der Satellit war abgeschrieben. Der Wert war versichert und die Versicherungszahlung der Versicherung war beim Rückversicherer rückversichert. Das brachte eine gewisse Freiheit mit sich. (Er wurde auch umbenannt. Aber ich bin hier überall beim ursprünglichen Namen AsiaSat-3 geblieben.)

Wenn die Raumfahrtindustrie eines ist, dann konservativ. Alles muss möglichst schnell, einfach, zuverlässig und risikoarm sein. Das hat zur Folge, dass sich bestimmte Prozeduren und Technologie so sehr verfestigt haben, dass Alternativen nicht nur misstrauisch beäugt werden, sondern kaum mit zwei spitzen Fingern angefasst werden.

Was nicht kostet, ist ein Risiko wert

Ganz anders sieht es mit einem abgeschriebenen Satelliten aus. Den Ingenieuren am Boden kam eine Idee. Wer genau wann welche Idee aus welchen Gründen hatte ist umstritten, aber immerhin das Ergebnis ist klar. (Es gibt eine unschöne Schlammschlacht der Beteiligten darum, die darin ausartete, dass “SpaceReview” drei unterschiedliche Darstellung veröffentlichte, von denen die dritte auch noch kommentiert wurde.)

Man kam auf die Idee, dass man den Satellit mit ein paar Manövern bis zum Mond fliegen lassen kann und dann die Bahnneigung durch die Gravitation des Mondes ausgleichen lässt. Dazu musste man schrittweise vorgehen. Die schwachen Triebwerke des Satelliten sind nicht für den schnellen Einschuss in solche Umlaufbahnen gebaut. Man setzte sie immer wieder am tiefsten Punkt der Bahn ein, um die Ellipse noch etwas länger zu strecken, bis sie schließlich zum Mond reichte.

Das ging nicht in einem Schritt, da man sonst nicht den “Oberth-Effect” ausnutzen kann. (Es gibt, der allgemeinen Förderung öffentlicher Verwirrung wegen, im deutschen auch noch den “Oberth-Effekt” – mit k –  der etwas völlig anderes ist.) Triebwerke sollten möglichst weit unten im Gravitationsfeld benutzt werden, wo der Treibstoff weniger potentielle Energie hat – die weiter oben verloren gehen würde. Die volle Erklärung würde hier zu weit führen.

Zweimal zum Mond und zurück

Jedenfalls wurde AsiaSat-3 der erste kommerzielle Satellit, der jemals den Mond erreicht und umrundet hat. Nicht nur einmal, sondern zweimal. Dazu flog man auf den Mond zu, aber nicht auf der Äquatorebene des Mondes, sonders so, dass die (für die Erde) “zu hohe” Seite der geneigten Umlaufbahn unterhalb der Mondmitte lag und umgekehrt. Die Gravitation bringt den Satelliten, bei passender Geschwindigkeit, dann nicht nur wieder auf eine Bahn zur Erde zurück, sondern auch in einer weniger geneigten Bahn.

Das musste zwei mal getan werden, bevor der Satellit wieder in passender Höhe auf die geostationäre Umlaufbahn eingebremst wurde. Das ganze Manöver nahm drei Monate in Anspruch, es wurde patentiert und das Patent im Jahr 2000 genehmigt.

Flieg nicht zu weit!

Nun dürfte es weniger das Patent sein, weswegen dieses Manöver nicht wiederholt wurde. Es dürfte vielmehr die Zeit sein, die es in Anspruch nimmt, der große Abstand zur Erde und Funkunterbrechung hinter dem Mond. Der Satellit war in 400.000km Entfernung immerhin über zehnmal so weit wie üblich von der Erde entfernt unterwegs. Die Radiosignale haben dort nur noch ein hundertstel der üblichen Stärke.

Ursprünglich hatte man sogar vor, mit einem Swing-by Manöver am Mond bis auf eine Entfernung von 1,5mio km zu fliegen, wo sich die Gravitation von Sonne und Erde fast aufheben und kleinste Änderungen der Geschwindigkeit große Änderungen der Flugbahn relativ zur Erde bewirken können. Aber dann stellte man fest, dass der Satellit damit außer Reichweite gewesen wäre.

Auch wenn sich insgesamt Treibstoff sparen lässt, ist das ganze ist nicht ganz so risikoarm, wie es sich die Industrie wünscht. Vorerst sind jedenfalls keine weiteren Ausflüge mit Satelliten zum Mond geplant. Vielleicht ändert sich das mit dem neuen, weit nördlich gelegenen, russischen Startplatz Wostotschny – wo die Einsparungen einen größeren Effekt haben würden.

Kommentare (8)

  1. #1 schlappohr
    16. Dezember 2015

    Und wie geht die Geschichte weiter? Hat der Satellit anschließend seine ursprünglich vorgesehene Aufgabe erfüllt? Konnte er, nachdem er eine Menge Treibstoff für dieses irrwitzige Manöver verbraucht hat, seine Position im geostationären Orbit für längere Zeit stabil halten? Will sagen, hat sich die ganze Sache gelohnt? Immerhin können sich die Patentträger jetzt zurück lehnen und genüsslich auf den nächsten versemmelten Satellitenstart warten und dann entweder Lizenzgebühren kassieren oder den Betreiber verklagen. Klingt doch nach einem modernen Geschäftsmodell.

  2. #2 gunterkrause
    16. Dezember 2015

    @schlappohr: Hier die ganze, kurzgefasste Geschichte, ja, auch mit einem kürzeren Happy End ;-):

    https://de.wikipedia.org/wiki/AsiaSat_3

  3. #3 INCO
    16. Dezember 2015

    “So sieht das hundertfach durchgeführte Standardmanöver aus. Der Satellit kommt in die Parkbahn, von dort in eine lange Ellipse, dann wird deren Bahnneigung korrigiert und zuletzt sorgt der Satellit aus eigener Kraft dafür, dass er in eine Kreisbahn kommt.”

    Dieses genaue Prozedere ist eine Besonderheit der Proton (auch wenn es teilweise andere Träger gibt bei denen man so verfahren ist oder immer noch verfährt) und auch der hohen geographischen Breite des Startplatzes geschuldet. Sehr schön illustriert ist das ganze im “Proton Mission Planer’s Guide”, dem Handbuch für Kunden und solche die es werden wollen:
    https://www.ilslaunch.com/sites/default/files/pdf/Proton%20Mission%20Planner's%20Guide%20Revision%207%20%28LKEB-9812-1990%29.pdf#58

    Die meisten Oberstufen liefern ihre Fracht jedoch direkt in den GTO ab, von wo dann der Satellit (bei chemischem Antrieb) Inklination und Bahngeschwindigkeit in einem kombinierten Manöver anpasst.

    Hat die Rakete für die Nutzlast genügend Leistung, kann auch ein direkter Einschuss in den GSO erfolgen.
    (Für die Proton sinkt die Nutzlast dann aber auch prompt auf die Hälfte ab)

  4. #4 INCO
    16. Dezember 2015

    “Dann werden die Triebwerke so ausgerichtet, dass der Satellit in Flugrichtung abgebremst wird und gleichzeitig in Richtung der neuen Bahnebene beschleunigt.”

    Der Hintergrund dieses Satzes erschließt sich mir nicht.
    Warum sollte man Bahngeschwindigkeit abbauen, nur um die Inklination zu ändern?
    Wenn das alleinige Ziel die Inklinationsänderung wäre, so würde man das minimale dV benötigen, wenn man einfach senkrecht zur Flugrichtung feuert.
    Und bei einem typischen Apogäums-Manöver möchte man sogar Bahngeschwindigkeit hinzugewinnen, um das Perigäum anzuheben. In diesem Fall beschleunigt man folglich sogar in Flugrichtung.

  5. #5 Alderamin
    16. Dezember 2015

    @Frank

    Triebwerke sollten möglichst weit unten im Gravitationsfeld benutzt werden, wo der Treibstoff weniger potentielle Energie hat – die weiter oben verloren gehen würde.

    Klingt erst mal logisch, aber es ist doch auch so, dass ein Schubstoß im Apogäum nur das Perigäum anheben kann, einer im Perigäum nur das Apogäum, weil die resultierende Bahn immer wieder durch den Punkt der ursprünglichen Beschleunigung hindurch führen muss (was anderes bei elektrischen Antrieben im Dauerbetrieb). Dann blieb am Ende gar keine andere Möglichkeit, als im perigäum die Ellipse Richtung Mond zu erweitern.

    Deswegen muss umgekehrt auch die geostationäre Umlaufbahn am oberen Ende der Ellipse zirkularisiert werden. (Ich hab’ gelesen, dass Du das nicht ausführen wolltest).

    Interessante Story, war mir nicht bekannt.

  6. #6 BreitSide
    Beim Deich
    17. Dezember 2015

    Solche Dimensionen kann ich mir hinreichend schlecht vorstellen. Umso faszinierender!

  7. #7 Florian
    18. Dezember 2015

    @INCO #4

    Man bremst den Satelit natürlich nicht wirklich runter und beschleunigt dann wieder in die richtige Richtung.
    Es geht darum die Richtung zu bestimmen in die beschleunigt werden muss, dazu legt man die beiden Vektoren aneinander und der Resultierende ist der den man dann wirklich ausführt.

    “Dann werden die Triebwerke so ausgerichtet, dass der Satellit in Flugrichtung abgebremst wird und GLEICHZEITIG in Richtung der neuen Bahnebene beschleunigt.”

  8. #8 Karl Mistelberger
    19. Dezember 2015

    Auch zwei Galileo Satelliten sind abgeschrieben. Diese werden nun dazu benutzt, die Allgemeine Relativitätstheorie mit stark verbesserter Genauigkeit zu testen: https://www.google.de/search?q=relativitätstheorie+galileo+satelliten