Das Problem mit der Geographischen Breite
Wostotschny liegt auf 52 Grad nördlicher Breite und damit etwa auf der Höhe von Berlin. Ein Ort so weit im Norden liegt aber viel näher an der Erdachse als ein Ort am Äquator, womit eine Rakete nicht mehr so viel von der Geschwindigkeit der Erdrotation profitieren kann wie dort.
Noch problematischer ist die Bahnneigung. Die Flugbahn einer Rakete, die auf 52 Grad nach Osten startet, hat immer eine Bahnneigung von 52 Grad, das ist das Minimum. Jede Abweichung in südöstlicher oder nordöstlicher Richtung vergrößert die Bahnneigung nur noch weiter. Das ist beim Flug zur Internationalen Raumstation (ISS) kein Problem. Deren Bahn hat eine Neigung von 51,65 Grad – perfekt für Wostotschny.
Aber der Start geostationärer Satelliten in die kommerziell wichtigste Umlaufbahn bereitet Probleme. Um geostationär zu werden, muss ein Satellit in die äquatoriale Ebene gebracht werden. Das ist ein Manöver, das die Raketen aus Wostotschny etwa ein Drittel der Nutzlast kostet. Dafür müssen die Raketenstufe oder der Satellit zunächst bis zum Äquator fliegen und dort die Flugrichtung ändern. Rein physikalisch muss dafür die Geschwindigkeit in Flugrichtung reduziert und diese Geschwindigkeit gleichzeitig in die neue Richtung wieder aufgebaut werden. Die dafür nötige Geschwindigkeitsänderung beträgt bei einem Winkel von 52 Grad fast 88 Prozent der aktuellen Fluggeschwindigkeit.
Zum Glück kann man dieses Manöver auch am erdfernsten Punkt des Transferorbits zur geostationären Umlaufbahn durchführen, wo die Fluggeschwindigkeit nur noch 1,6 km/s beträgt. Tatsächlich benutzt man in solchen Fällen noch höhere Transferorbits, um den Aufwand für dieses Manöver noch weiter zu verringern. In einem aus der Not geborenen Manöver flog der Satellit Asiasat-3 sogar zweimal am Mond vorbei, um mit dessen Hilfe die Bahnebene zu verändern.
Nur beim Start in einen polaren Orbit ist ein Startplatz weit weg vom Äquator hilfreich. Satelliten in solchen Orbits überfliegen im Lauf der Zeit die gesamte Erdoberfläche, was vor allem für Spionage- und Erdbeobachtungssatelliten hilfreich ist.
Aber auch Kommunikationssatellitensysteme wie Orbcomm oder Iridium bringen Satelliten in diese Orbits. Für solche Umlaufbahnen geht die Erdrotation gerade in die falsche Richtung, weshalb es auch Standorte weit im Norden gibt. Dazu gehört zum Beispiel das Plessezk-Kosmodrom, 800 km nördlich von Moskau.
Zur Zeit verhandeln Schweden und China über die Nutzung des Startplatzes European Space and Sounding Rocket Range (Esrange) bei Kiruna in Nordschweden für die neue Rakete Naga-1. Ähnlich wie Baikonur und eine Reihe chinesischer Weltraumbahnhöfe steht auch Wostotschny im Landesinneren.
Da das Meer zu weit entfernt ist, gehen die Booster auf Land herunter. Sie erreichen nicht annähernd die Geschwindigkeiten, die nötig wären, damit sie verglühen könnten. Ohne die extremen Geschwindigkeiten, mit denen sich Raketen im Orbit bewegen, reicht die Luftreibung nur aus, um das Metall zu erhitzen, aber nicht, um es zu schmelzen.
Am Ende müssen sich die Verantwortlichen darauf verlassen, dass der Oblast Amur, wie der Osten Russlands allgemein, extrem dünn besiedelt ist. Die Landezonen der Booster können auch so gelegt werden, dass in ihnen keine größeren Siedlungen liegen. Trotzdem kann man davon ausgehen, dass es auch von Wostotschny Bilder abgestürzter Raketenteile in mehr oder weniger großer Menschennähe geben wird.
Sicher hätte ein Kosmodrom an der Ostküste Russlands große Vorteile gehabt. Zumal die Küste in Richtung Wladiwostok auch noch etwas weiter in den Süden reicht. Aber vor der Küste ist Japan. Die Gefahr von herabfallenden Trümmern bei Fehlfunktionen wäre den ohnehin gespannten Beziehungen beider Länder sicher nicht zuträglich gewesen.
Mit Baikal ist zwar seit längerer Zeit ein Konzept für einen rückkehrenden Booster mit Flügeln in der Entwicklung. Aber durch die aktuell schlechte wirtschaftliche Situation in Russland ist diese Entwicklung in noch weitere Ferne gerückt.
Allerdings ist Russland mit diesen Problemen nicht allein. In China wurden die Weltraumbahnhöfe durchweg im Landesinneren errichtet – und bei weitem nicht nur in dünn besiedelten Gegenden.
In einem besonders tragischen Fall ist eine Trägerrakete vom Typ Langer Marsch 3B beim Start des Satelliten Intelsat 708 für ein US-Unternehmen sogar in Dorf gestürzt, wahrscheinlich mit mehreren Hundert Toten. Sicher einer der Gründe, weshalb auch China einen neuen Startplatz auf der südlichen Insel Hainan baut, wo die Raketen in Richtung Pazifik starten können. Auch dort ist das mit der Einführung einer neuen Raketengeneration, der Langen Marsch 5, 6 und 7, verbunden.
In vielen weiteren Ländern werden ebenfalls Weltraumbahnhöfe gebaut. Rocket Lab will seine neue Electron-Rakete in Neuseeland starten lassen. SpaceX hat 2014 mit dem Bau einer Startrampe für die Falcon-Raketen begonnen. Sie befindet sich am südlichsten Punkt von Texas, an der Mündung des Rio Grande, in der Nähe des 26-Einwohner-Dorfs Bocca Chica. Der Grund dafür ist die Überlastung der Aufsichtsbehörden am Kennedy Space Center bei der Koordinierung der diversen Raketenstarts.
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