Nirgends starten so viele Raketen wie in Baikonur, dennoch will Russland einen neuen Weltraumbahnhof bauen – und das ist nicht leicht. Was beim Bau eines Weltraumbahnhofs zu beachten ist.

Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt, und jeder Flug in den Weltraum beginnt auf der Startrampe. Einige der Startplätze sind inzwischen berühmt. Neben dem John F. Kennedy Space Center, von dem die Saturn-V-Raketen zum Mond flogen, ist der Weltraumbahnhof von Baikonur sicherlich am bekanntesten. Von nirgendwo starten mehr Raketen ins Weltall. Trotzdem will Russland einen neuen Startplatz bauen – und hat damit einige Schwierigkeiten.

(Dieser Artikel wurde heute Mittag auch auf Golem.de veröffentilcht.)

Der Grund für die Pläne: Baikonur hat ein Problem. Es ist nicht Teil von Russland, sondern steht auf gepachtetem Land in Kasachstan. Daher kann Russland nicht frei über seinen wichtigsten Startplatz verfügen. Schon seit der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 gibt es deshalb Pläne für ein neues Kosmodrom in Russland. Die dafür nötigen finanziellen Mittel konnte Russland aber erst nach der Wiederverstaatlichung der privatisierten Ölindustrie aufbringen, die sich zu Zeiten von Präsident Boris Jelzins in der Hand einiger weniger Oligarchen befand.

Wostotschny

Das Wostotschny-Kosmodrom, auf deutsch: östlicher Raumbahnhof, soll am Amur entstehen. Der bildet die Grenze zu China und heißt dort Heilongjiang, Schwarzer Drachenfluss. Die Startrampen sind von Anfang an für die neue Angara-Rakete ausgelegt, die sich fast genauso lang in Planung befand wie Wostotschny selbst. Aber im vergangenen Jahr absolvierten die Angara 1 und Angara 5 ihren Jungfernflug endlich erfolgreich. Damit einher geht auch eine Umstellung der gesamten russischen Raketenflotte.

Die Angara besteht aus universellen Raketenmodulen (URM). An die Stelle der ausgedienten Kosmos-Rakete tritt die Angara 1 mit einem URM und einer Oberstufe. Die unzuverlässige Proton soll durch die Angara 5 ersetzt werden, mit fünf URMs in der ersten Stufe. Die vier äußeren Module dienen dabei als Booster. Kurz nach dem Start wird der Schub des Triebwerks im zentralen Modul auf 27 Prozent reduziert, so dass es bei Abtrennung der Booster noch mehr als die Hälfte des Treibstoffs hat und effektiv als zweite Stufe fungiert.

Bei normalen Nutzlasten kommt dazu noch eine weitere Stufe. Aber die russische Raumfahrtagentur Roskosmos ist dabei, ein neues, größeres Raumschiff zu entwickeln. Es wird die erste komplette Neuentwicklung seit der Einführung des Sojus-Raumschiffs in den 1960er-Jahren sein. Bei Flügen mit diesem Raumschiff wird die Angara keine Oberstufe haben. Dadurch fallen Risiken bei der Stufentrennung weg. Außerdem können alle Triebwerke beim Start am Boden gezündet und getestet werden, was der Sicherheit erheblich zugute kommen sollte.

Frei von Problemen ist die ganze Entwicklung bei Weitem nicht. Das fängt beim Bau an: Das Projekt kam immer wieder mit Korruption und Skandalen in die Schlagzeilen. Der Bau verzögerte sich um Jahre. Der Fall der Ölpreise und damit einhergehende Budgetprobleme führten zu Streiks und zur Nichtbezahlung von Arbeitern. Das ganze Projekt wurde zur Chefsache.

Neben Finanzen und Organisation hat Wostotschny auch geographische Probleme.

Einige davon sind kaum zu umgehen, wie etwa die geographische Breite. Raketen starten vorzugsweise nach Osten, um durch die Erdrotation etwas Energie einsparen zu können. Der Weltraumbahnhof der Ariane-Raketen in Kourou in Französisch Guyana, nur 5 Grad nördlich des Äquators, ist damit fast perfekt.

Nur das Luigi Broglio Space Centre vor der Küste Kenias bei Malindi liegt noch näher dran. Dort ging 1498 Vasco da Gama an Land, um bei den persischen Stadthaltern nach einem Navigator für den Weg nach Indien zu suchen. Von dort traten zwischen 1964 und 1988 Raketen unter italienischer Leitung ihren Weg in den Orbit an.

Das Problem mit der Geographischen Breite

Wostotschny liegt auf 52 Grad nördlicher Breite und damit etwa auf der Höhe von Berlin. Ein Ort so weit im Norden liegt aber viel näher an der Erdachse als ein Ort am Äquator, womit eine Rakete nicht mehr so viel von der Geschwindigkeit der Erdrotation profitieren kann wie dort.

Noch problematischer ist die Bahnneigung. Die Flugbahn einer Rakete, die auf 52 Grad nach Osten startet, hat immer eine Bahnneigung von 52 Grad, das ist das Minimum. Jede Abweichung in südöstlicher oder nordöstlicher Richtung vergrößert die Bahnneigung nur noch weiter. Das ist beim Flug zur Internationalen Raumstation (ISS) kein Problem. Deren Bahn hat eine Neigung von 51,65 Grad – perfekt für Wostotschny.

Aber der Start geostationärer Satelliten in die kommerziell wichtigste Umlaufbahn bereitet Probleme. Um geostationär zu werden, muss ein Satellit in die äquatoriale Ebene gebracht werden. Das ist ein Manöver, das die Raketen aus Wostotschny etwa ein Drittel der Nutzlast kostet. Dafür müssen die Raketenstufe oder der Satellit zunächst bis zum Äquator fliegen und dort die Flugrichtung ändern. Rein physikalisch muss dafür die Geschwindigkeit in Flugrichtung reduziert und diese Geschwindigkeit gleichzeitig in die neue Richtung wieder aufgebaut werden. Die dafür nötige Geschwindigkeitsänderung beträgt bei einem Winkel von 52 Grad fast 88 Prozent der aktuellen Fluggeschwindigkeit.

Zum Glück kann man dieses Manöver auch am erdfernsten Punkt des Transferorbits zur geostationären Umlaufbahn durchführen, wo die Fluggeschwindigkeit nur noch 1,6 km/s beträgt. Tatsächlich benutzt man in solchen Fällen noch höhere Transferorbits, um den Aufwand für dieses Manöver noch weiter zu verringern. In einem aus der Not geborenen Manöver flog der Satellit Asiasat-3 sogar zweimal am Mond vorbei, um mit dessen Hilfe die Bahnebene zu verändern.

Nur beim Start in einen polaren Orbit ist ein Startplatz weit weg vom Äquator hilfreich. Satelliten in solchen Orbits überfliegen im Lauf der Zeit die gesamte Erdoberfläche, was vor allem für Spionage- und Erdbeobachtungssatelliten hilfreich ist.

Aber auch Kommunikationssatellitensysteme wie Orbcomm oder Iridium bringen Satelliten in diese Orbits. Für solche Umlaufbahnen geht die Erdrotation gerade in die falsche Richtung, weshalb es auch Standorte weit im Norden gibt. Dazu gehört zum Beispiel das Plessezk-Kosmodrom, 800 km nördlich von Moskau.

Zur Zeit verhandeln Schweden und China über die Nutzung des Startplatzes European Space and Sounding Rocket Range (Esrange) bei Kiruna in Nordschweden für die neue Rakete Naga-1. Ähnlich wie Baikonur und eine Reihe chinesischer Weltraumbahnhöfe steht auch Wostotschny im Landesinneren.

Da das Meer zu weit entfernt ist, gehen die Booster auf Land herunter. Sie erreichen nicht annähernd die Geschwindigkeiten, die nötig wären, damit sie verglühen könnten. Ohne die extremen Geschwindigkeiten, mit denen sich Raketen im Orbit bewegen, reicht die Luftreibung nur aus, um das Metall zu erhitzen, aber nicht, um es zu schmelzen.

Am Ende müssen sich die Verantwortlichen darauf verlassen, dass der Oblast Amur, wie der Osten Russlands allgemein, extrem dünn besiedelt ist. Die Landezonen der Booster können auch so gelegt werden, dass in ihnen keine größeren Siedlungen liegen. Trotzdem kann man davon ausgehen, dass es auch von Wostotschny Bilder abgestürzter Raketenteile in mehr oder weniger großer Menschennähe geben wird.

Sicher hätte ein Kosmodrom an der Ostküste Russlands große Vorteile gehabt. Zumal die Küste in Richtung Wladiwostok auch noch etwas weiter in den Süden reicht. Aber vor der Küste ist Japan. Die Gefahr von herabfallenden Trümmern bei Fehlfunktionen wäre den ohnehin gespannten Beziehungen beider Länder sicher nicht zuträglich gewesen.

Mit Baikal ist zwar seit längerer Zeit ein Konzept für einen rückkehrenden Booster mit Flügeln in der Entwicklung. Aber durch die aktuell schlechte wirtschaftliche Situation in Russland ist diese Entwicklung in noch weitere Ferne gerückt.

Allerdings ist Russland mit diesen Problemen nicht allein. In China wurden die Weltraumbahnhöfe durchweg im Landesinneren errichtet – und bei weitem nicht nur in dünn besiedelten Gegenden.

In einem besonders tragischen Fall ist eine Trägerrakete vom Typ Langer Marsch 3B beim Start des Satelliten Intelsat 708 für ein US-Unternehmen sogar in Dorf gestürzt, wahrscheinlich mit mehreren Hundert Toten. Sicher einer der Gründe, weshalb auch China einen neuen Startplatz auf der südlichen Insel Hainan baut, wo die Raketen in Richtung Pazifik starten können. Auch dort ist das mit der Einführung einer neuen Raketengeneration, der Langen Marsch 5, 6 und 7, verbunden.

In vielen weiteren Ländern werden ebenfalls Weltraumbahnhöfe gebaut. Rocket Lab will seine neue Electron-Rakete in Neuseeland starten lassen. SpaceX hat 2014 mit dem Bau einer Startrampe für die Falcon-Raketen begonnen. Sie befindet sich am südlichsten Punkt von Texas, an der Mündung des Rio Grande, in der Nähe des 26-Einwohner-Dorfs Bocca Chica. Der Grund dafür ist die Überlastung der Aufsichtsbehörden am Kennedy Space Center bei der Koordinierung der diversen Raketenstarts.

Es geht aber auch ohne den Bau von Weltraumbahnhöfen

Dass der Bau von Weltraumbahnhöfen auch ganz vermieden werden kann, hat die Firma Sea Launch vorgemacht. Das war ein russisch-amerikanisch-norwegisch-ukrainisches Konsortium. Diese Kombination war auch nötig, denn Sea Launch startete von 1998 bis 2014 Zenit-Raketen von einer umgebauten Ölbohrplattform, kontrolliert von einem Kommandoschiff aus. Aus den USA kamen das Geld und die Kommunikationstechnik in dem Schiff, aus Norwegen die Bohrplattform, die Zenit-Rakete von der russischen Firma RKK Energija, aber einige Teile der Zenit wurden nur in der Ukraine hergestellt.

Die Geschichte von Sea Launch endete wegen einer Kombination aus finanziellen und politischen Schwierigkeiten. Nach einigen Fehlstarts der Zenit-Rakete ging die Firma 2009 in Konkurs und wurde unter Leitung der russischen RKK Energija neu in der Schweiz angemeldet. Das endgültige Ende kam mit dem Ukraine-Konflikt, weil ohne eine Zusammenarbeit zwischen Russland und Ukraine keine Zenit-Raketen gebaut werden können. Inzwischen stehen die Plattform und das Kommandoschiff zum Verkauf.

Eine weitere Möglichkeit, ohne Weltraumbahnhof zu starten, ist, ausgediente Interkontinentalraketen für Raketenstarts zu benutzen. In den USA laufen sie unter dem Namen Minotaur, dahinter stehen umgebaute Minuteman- und Peacekeeper-Raketen ohne Atomsprengkopf. In Russland tragen sie verschiedene Namen, eine davon ist die russische Sthil. Diese Raketen waren für den Start von U-Booten ausgelegt. 1998 wurden zwei deutsche Satelliten mit einer Sthil Rakete vom U-Boot K-407 “Novomoskovsk” gestartet. Einen weiteren Start gab es erst 2006 wieder, von der K-84 “Ekaterinburg”.

Wieder andere Raketen wie die Pegasus von Orbital Sciences werden von Flugzeugen aus gestartet. Das hat vor allem den Vorteil des geringeren Luftdrucks, durch den Triebwerke effizienter werden und der Luftwiderstand beim Start verringert wird.

Virgin Galactic hat vor kurzem eine Boeing 747-400 gekauft und auf den Namen Cosmic Girl getauft. Damit soll die Rakete Launcher One kleinere Satelliten starten.

Das ist Teil einer Technologieblase, die nun schon eine ganze Reihe privater Raketenhersteller hervorgebracht hat. Darunter auch Bloostar, das eine Rakete mit einem Ballon aus 20 bis 30 Kilometern Höhe starten lassen will. Der Ballon soll von einem Schiff in den Kanaren aus gestartet werden, dessen Geschwindigkeit sich den Windverhältnissen anpassen und so für optimale Startbedingungen sorgen soll.

Und so finden sich für alle Raketen Orte zum Starten – und zwar mehr als genug. Denn derzeit wollen mehr Firmen mit Raketenstarts Geld verdienen, als die Nachfrage nach Satelliten zulassen würde.

Kommentare (2)

  1. #1 Turi
    8. Januar 2016

    “Kurz nach dem Start wird der Schub des Triebwerks im zentralen Modul auf 27 Prozent reduziert, so dass es bei Abtrennung der Booster noch mehr als die Hälfte des Treibstoffs hat und effektiv als zweite Stufe fungiert.”

    Ha, so bau ich meine Raketen in Kerbal Space Programm auch immer. Fehlen nur noch die Treibstoffverbindungen von den Tanks der “ersten” Stufe zu dem Tank der “zweiten” Stufe für noch mehr delta V. ;)

  2. #2 A-P-O
    9. Januar 2016

    Danke für den interessanten Beitrag.