Es gibt Unglücksfälle – egal ob im technischen oder gesellschaftlichen Umfeld – bei denen die Ursache nicht an den Handlungen eines einzelnen Subjekts festgemacht werden kann. Die Zusammenhänge sind zu komplex oder die Beteiligten zu zahlreich, als dass es vernünftig wäre eine Schuld zuzuordnen.
Wen trifft die Schuld, wenn ein bestimmtes Bauteil eines Flugzeugs unerwartet einen Ermüdungsbruch erleidet? Man müsste wohl alle Ingenieure und Materialforscher zur Verantwortung ziehen, die jemals mit dem Bau des Flugzeugs, dem Bau verwandter Komponenten, der Entwicklung und Untersuchung der benutzten Materialen und Werkzeuge beschäftigt waren. Genauso wie alle Ingenieure und Mechaniker, die jemals einen Hinweis auf ein solches Verhalten an ähnlichen Bauteil, vielleicht an einem Rasenmäher, gesehen haben und keine Veröffentlichung geschrieben haben, die auf die mögliche Schwäche hinweist.
Natürlich geht das zu weit. Welchen Anteil der Schuld sollte man den einzelnen Leuten zuordnen, wenn man es auf diese Weise plötzlich mit Zehntausenden zu tun hat? Dazu kommt noch die Frage: Kann dann überhaupt irgendwer, irgendetwas tun, ohne dass er potentiell als Schuldiger für ein Unglück gilt, mit dem er über fünf Verzweigungen in Verbindung steht?
In früheren Zeiten hätte man in solchen Fällen dem Schicksal die Schuld gegeben, manchmal tritt heute stattdessen die Technik an diese Stelle.
Was sollte Technik tun?
Womit ich zu dem komme, was ich eigentlich schreiben wollte. Denn ich habe durchaus eine Meinung zu dem Unglück, so wie es sich bisher darstellt. Es wurde noch nicht konkret gesagt, worin die Abweichung vom vorgeschriebenen Verhalten des Fahrdienstleiters bestand, nur Alkohol wurde explizit ausgeschlossen. Diese Meinung kann sich damit für diesen speziellen Fall noch ändern.
Aber es gibt einige allgemeine Dinge, die man sagen kann.
Wie schon geschrieben: Das Sicherheitskonzept hat in seiner Aufgabe versagt. Das Sicherheitssystem konnte umgangen werden, obwohl sich zwei Züge auf dem gleichen Gleis befanden. Das ist ein Versagen der Technik, völlig unabhängig davon ob sich der Fahrdienstleiter korrekt verhalten hat oder nicht. Die Sicherheitstechnik existiert ja gerade deshalb, weil menschliche Fehler passieren und ihre Auswirkungen verhindert werden sollen.
Der Fahrdienstleiter hatte keine Möglichkeit die Zugfahrer zu erreichen, nachdem er einen Fehler gemacht hatte. Die Möglichkeit zur Kommunikation gehört zur Sicherheit. Die Zugfahrer hatten keine Möglichkeit, selbstständig herauszufinden, wo der jeweils andere Zug ist. Es fehlte an Redundanz in der Kommunikation und in der Information. Natürlich trug der Fahrdienstleiter die Verantwortung, aber war es verantwortlich, einem Menschen allein diese Verantwortung zu übertragen?
Ob das technisches Versagen ist, wie oben schon diskutiert, eine Frage der Defintion. Es haben alle sicherheitstechnischen Einrichtungen so funktioniert, wie sie sollten. Keine hat versagt. Es stellt sich aber die ernsthafte Frage, ob diese Einrichtungen adequat waren. Technik kann auch dadurch versagen, dass sie schlicht fehlt. Überspitzt könnte könnte man nach einem Unfall sagen: “Die Bremsen haben nicht versagt. Sie waren nur nicht eingebaut. Wie hätten sie da versagen können? Die Technik ist unschuldig.”
Technik muss den Mensch entlasten
Die Aufgabe der Technik ist es, den Menschen zu entlasten. Wir alle sind Menschen. Wir alle haben schon Fehler gemacht. Wir alle haben schon Fehler gemacht, die jeder Verantwortlichkeit entbehrten (und hoffentlich trotzdem alles gut ausging). Jetzt zu sagen, die Technik hat funktioniert und es wäre nicht zum Unfall gekommen, wenn der Mensch alles richtig gemacht hätte, ist falsch.
Menschen machen Fehler. Ein System in dem ein Mensch keinen menschlichen Fehler machen darf, ist ein fehlerhaftes System. Genauso wie ein Haus kein sicheres Haus ist, in dem ein tragender Balken mehr tragen muss, als er mit Sicherheit tragen kann.
Viel schwerer als jeder Fehler in diesem Unglück wiegt natürlich ein ganz anderer Fehler, auf gesellschaftlicher Ebene. Denn Zugunglücke erhalten zu viel Aufmerksamkeit. Wenn es um die Frage geht, wie man Unfälle mit Toten und Schwerverletzten verhindert, dann muss man sie dort verhindern, wo es die meisten Toten und Schwerverletzten gibt. Und das ist nicht im Zugverkehr und auch nicht in der Luftfahrt, sondern im Straßenverkehr.
Und selbst das ist nichts im Vergleich zu den Menschenleben, die mit ganz normalen Hygienemaßnahmen und ausreichend Personal vor tödlichen Infektionen in Krankenhäusern bewahrt werden könnten.
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