Die Wiedervereinigung ist auch für die Wissenschaft ein riesiges Geschenk! Darüber war man sich zum gestrigen Auftakt des Symposiums “Wissenschaft und Wiedervereinigung” einig. Über die Frage jedoch, wie die Neugestaltung des gesamtdeutschen, intregrierten Wissenschaftssystems nach nunmehr 20 Jahren zu bewerten ist, ob man den Prozess als Erfolg oder Misserfolg einstufen muss, ob (und welche!) Sieger und Verlierer es gab, darüber gingen die Ansichten weit auseinander.
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Für Wolfgang Thierse – und hier fand er breite Zustimmung im Plenum – steht jedenfalls fest: Für die Wissenschaft bedeutet die Wende von 1989/1990 eine “unerhörte Veränderung.” Man müsse sich nur einmal vergegenwärtigen, wie die heutige Wissenschaftslandschaft aussehen würde, wenn es die DDR noch gäbe, dann werde offensichtlich, wie elementar die Veränderung sei, so Wolfgang Thierse, der den akademisch-universitären Umbruchprozess als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR aus nächster Nähe miterlebt hatte.

Neben Thierse saß Dagmar Schipanski auf dem Podium. Und auch sie konnte ganz unmittelbare Erfahrungen beisteuern. Und in ihrem Eingangsstatement stellte sie unmißverständlich fest, wie unvergleichlich die Ausgangsbedingungen der beiden deutschen Wissenschaftssysteme vor 20 Jahren war. Auf der einen Seite das freiheitliche Diskurssystem, auf der anderen – so erlebte es Schipanski – eine selbst in den technischen Disziplinen ideologisch geprägte Wissenschaftslandschaft. Das begann mit der Selektion der Akademiker vor dem Studium:

“Wir hatten keinen freien Zugang zum Studium. Der Zugang war rigide beschränkt.” (Schipanski)

Und für die weitere akademische Karriere stellt Dagmar Schipanski klar:

“Nicht die Leistung allein war ausschlaggebend, sondern soziale Herkunft. Und ebenso entscheidenend: poltisches Wohlverhalten dem Staat gegenüber.” (Schipanski)


Diesen Eindruck konnte Jens Reich, Biologe und Bürgerrechtler, nur bestätigen:

“Vielleicht hat der ideologische Faktor sich in den Humanities stärker ausgewirkt, aber die Weltanschauungen haben auch in meinem Fach starken Einfluß gehabt.” (Jens Reich)

Jens Reich: In vielen Bereichen war die DDR-Forschung einfach nur Mittelmaß.

Und er ließ keinen Zweifel, dass die Wende für die Wissenschaft einen unbedingten Gewinn darstellt. Denn rein wissenschaftlich betrachtet, so sei die DDR-Forschung zumindest in seinem Bereich nicht über Mittelmaß hinausgekommen. Einer der Hauptfaktoren für diese Schwäche sei natürlich die Tatsache, dass “die junge aktive und mittlere Generation weitgehend vom internationalen Austausch ausgeschlossen wurde.” Und Reich weiter:

“Die DDR-Wissenschaft meines Fach hat in der Topliga einfach nicht mitspielen können.” (Jens Reich)

Im weiteren Verlauf lief Reich freilich Gefahr, die Situation in der DDR ein wenig zu romantisieren oder zu verklären. Reich erinnerte (aus seiner Perspektive) daran, dass die Wissenschaftler untereinander damals eine Art “Lebensgemeinschaft” gebildet hätten. Die Loyalität und Zusammengehörigkeit sei stark ausgeprägt gewesen, heute erlebe er (die befristeten Verträge und die Konkurrenz seien die Hauptgründe) die Wissenschaftler häufig eher als “Söldnerheere”.

Widerspruch erntete Reich dafür nicht. Gerhard A. Ritter, maßgeblich am Neuaufbau der Geschichtswissenschaft an der Humboldt Uni beteiligt, erinnerte allerdings daran, wie erfreulich sich die Wissenschaftslandschaft entwickelt habe. Mit Jena, Greifswald, Dresden, Rostock, Leipzig oder Potsdam hätten sich an so vielen Stellen alte und gute universitäre Traditionen neu belebt, die heute als Innovationsmotoren in die jeweiligen Regionen ausstrahlten.

Da mochte Ritter niemand so recht widersprechen, Wolfgang Thierse nahm allerdins nochmal die Schattenseiten in den Blick. Zwar sei die Befreiuung von Bevormundung und von intellektueller Beschränkung ein riesiges Glück, aber es sei an der Zeit, die Veränderungsprozesse kritisch zu beleuchten. Denn, so Thierse:

“Im Prozeß der Umgestaltung waren die Ostdeutschen immer seltener Akteure, sie wurden immer häufiger Objekte.” (Wolfgang Thierse)

Über diese und viele weitere Fragen, über die Rolle der Ehrenkommissionen, die individuellen Schicksale vieler Wissenschaftler und die strukturellen Aspekte wird am heutigen Tag in insgesamt vier Podiumsdiskussionsrunden debattiert.

Das Symposium findet im Akademiegebäude am Gendarmenmarkt, Einstein-Saal, Jägerstraße 22-23, Berlin statt.

Es ist eine Veranstaltung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen des Wissenschaftsjahres 2009 “Forschungsexpedition Deutschland”