Der Historiker Dr. Andreas Malycha hat sich in den letzten Jahren mit der Forschungspolitik in der SBZ/DDR beschäftigt und bearbeitet seit 2008 am Institut für Geschichte der Medizin der Berliner Charité ein Forschungsprojekt, das die Biowissenschaften/Biomedizin im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik in der DDR und der Bundesrepublik in den sechziger und siebziger Jahren zum Thema hat. – Hier sein Gastbeitrag:
„Dynamische Zeiten” hat die historische Forschung die 1960er Jahre genannt. In der Tat ist dieser Zeitraum gerade auf dem Feld der Biowissenschaften von tiefgreifenden Wandlungen geprägt. Während sich die Molekularbiologie in der Folge der Entdeckung der DNA durch Francis Crick und James Watson während der 1950er Jahre noch darauf beschränkt hatte, die Prozesse der Vererbung und Ausprägung der Erbinformationen zu untersuchen, stand in den 1960er Jahren der gezielte Eingriff in das genetische Material im Zentrum des Forschungsinteresses.
Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik beflügelten Visionen über nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Medizin der Zukunft.
Die Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik beflügelten Visionen über nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Medizin und nährten kühne Erwartungen an die Zukunft. Hier findet sich die Voraussage einer enormen Steigerung der Lebenserwartung, die Entwicklung von Ovulationshemmern mit zwanzigjähriger Wirkung, der allgemeinen Verwendung künstlicher Organe, das künstliche Wachstum von Gliedmaßen und Organen, der Einsatz elektronischer Prothesen, der Erstellung medizinischer Diagnosen durch Computer, der Winterschlaf für Menschen zu medizinischen Zwecken wie von Methoden zur Vererbungskontrolle, um nur einige Themen zu nennen.
Nicht nur Wissenschaftler, auch Politiker in Ost und West hofften darauf, mit innovativen Forschungsergebnissen der Biowissenschaften Instrumente schaffen zu können, um Krankheiten (Krebserkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Viruserkrankungen) zu diagnostizieren und zu therapieren.
Biowissenschaften als Schlüsseltechnologie der 1960er Jahre in Ost und West
Die Biowissenschaften sollten also helfen, eine bessere, lebenswerte Welt zu schaffen. Ein Vergleich des Forschungsstandes in den Biowissenschaften mit den internationalen Entwicklungen fiel jedoch für die DDR und die Bundesrepublik gleichermaßen negativ aus, nahmen Wissenschaftler wie Politiker die eigene Situation doch als hoffnungslos rückständig, insbesondere gegenüber der amerikanischen Forschung wahr. Allgemein war von der „technologischen Lücke” gegenüber den Amerikanern die Rede.
Wenn die Erwartungen an die medizinischen Innovationen reale Gestalt annehmen sollten, mussten auch die Forschungsziele und dafür notwendige Ressourcen strategisch geplant werden. Für die Biowissenschaften ergab sich daraus ein sehr komplexer Vorgang, denn sie vereint viele an der Erforschung von Lebensvorgängen beteiligte wissenschaftliche Disziplinen.
Forschungsplanung in der BRD
Für die Bundesrepublik stellte die mittelfristige Planung in der Wissenschaft allerdings absolutes Neuland dar, stand doch jegliche Form von Forschungsplanung in dem negativen Ruf, das sowjetische Planwirtschaftsmodell zu imitieren. Sowohl in der universitären als auch der außeruniversitären Forschung dominierte in den Ländern ein streng disziplinär geordnetes Forschungsgefüge, in dem die Disziplinen um Forschungsmittel konkurrierten. Deshalb legte die Bundesregierung qualitativ neue Förderprogramme auf, um in mehrteiligen und vernetzten Forschungsinstitutionen der Biowissenschaften eine problemorientierte, interdisziplinär organisierte Forschung im großem Stil zu realisieren.
Konzertierte Forschungssteuerung: In der BRD betritt man Neuland. Gelingt es den Rückstand auf die USA in den Biowissenschaften aufzuholen?
Das 1969 von der Bundesregierung initiierte Querschnittsprogramms „Neue Technologien” sollte die Vorteile anderer Staaten durch großzügige staatliche Forschungs- und Beschaffungsprogramme ausgleichen. Auf dem Gebiet einer neuen Förderpolitik waren vor allem die Förderinitiativen der 1962 gegründeten Volkswagenstiftung wegweisend. Von Anfang an war ihr Interesse besonders auf die Förderung der auch „physikalische Biologie” genannten Molekularbiologie gerichtet. Absicht war es, den wissenschaftlichen Rückstand vor allem gegenüber den biowissenschaftlichen Forschungen in den USA aufzuholen.
Die “Biologieprognose” in der DDR
Die auch in der DDR vorherrschende unproduktive Konkurrenz um Forschungsmittel, Wissenschaftler und materiell-technische Ressourcen, die mit einer Aufsplitterung von Zuständigkeiten und einer unkoordinierten Vielzahl spezieller Forschungsinteressen verbunden war, sollte hier durch eine breit angelegte Planungsinitiative – der so genannten Biologieprognose – beendet werden.
Durch zentrale Planung und ambitionierte Programme sollte die Trendwende zur Molekurbiologie gemeistert und der Anschluss an die internationale Diskussion erreicht werden.
Von 1966 bis 1968 wurde in Verantwortung des Biochemikers Samuel Mitja Rapoport die „Prognose zur Entwicklung der biologischen Forschung in der DDR für den Zeitraum 1970 bis 1980″ (kurz: Biologieprognose) unter Beteiligung von nahezu 500 Wissenschaftlern hauptsächlich der Biologie und Medizin aus Universitäten und Instituten der Deutschen Akademie der Wissenschaften unter Hinzuziehung von Spezialisten anderer Disziplinen – z.B. Pflanzenphysiologen, Pharmazeuten, Agrarwissenschaftler – erarbeitet. Sie entwickelte für die Jahre von 1970 bis 1980 zentrale Forschungsprogramme und -ziele in der biomedizinischen sowie genetischen Forschung, die sich an der internationalen Wissenschaftsentwicklung orientierten und das Bemühen widerspiegelten, in den sich rasant entwickelnden Biowissenschaften die Trendwende von der konventionellen Biologie zur Molekularbiologie mit zu vollziehen.
So innovativ die Forschungsthemen für die Hauptforschungsrichtungen auch waren, so unvollständig wurden sie umgesetzt. Die in der Biologieprognose konzipierten Forschungsprogramme beeinflussten zwar die Grundrichtungen der biowissenschaftlichen Forschung für die 1970er Jahre, doch wurde die Vision eines langfristig und komplex angelegten Forschungsprogramms nicht realisiert. Sie scheiterte einerseits an der internen Planungsbürokratie wie den immer wieder aufbrechenden Kompetenzstreitigkeiten zwischen den verschiedenen Ministerien und andererseits an den fehlenden materiellen und finanziellen Möglichkeiten. Damit werden insbesondere die Grenzen der Wissenschaftspolitik in einem vermeintlich zentralisierten Staatswesen deutlich, das bei näherer Betrachtung offenbar nicht ganz so zentralistisch strukturiert war.
Im deutsch-deutschen Vergleich bleibt folgendes festzuhalten: Es gab in den 1960er Jahren eine identische Problemwahrnehmung, die zu neuen Fördermodellen und -programmen und schließlich zu ambitionierten Forschungsprojekten führte. Die neuen Förder- und Steuerungsprogramme berücksichtigten die andersartigen Anforderungen der auf Interdisziplinarität orientierten biowissenschaftlichen und biomedizinischen Forschung stärker als die bisherigen Programme.
Die Parallelen zwischen Ost und West sind verblüffend.
Die zeitlichen Parallelen in der Dynamik der Entwicklung auf beiden Seiten der Mauer sind verblüffend, doch verbergen sich hinter den offensichtlichen Gemeinsamkeiten zugleich auch tiefgreifende Unterschiede. Setzte man in der Bundesrepublik bei einer nur losen Rahmenplanung auf das Nebeneinander verschiedener Initiativen und Fördermodelle mit Angebotscharakter, suchte man in der DDR der Zersplitterung von Zuständigkeiten zwischen den Ministerien und das streng disziplinär geordnete Forschungsgefüge durch „Sozialistischen Großforschungsvorhaben” zu beenden.
Während es in der Bundesrepublik gelang, die Forschung zu koordinieren, neue Fördermodelle zu schaffen, die jenseits straffer Institutsstrukturen neue, flexiblere und mobilere Arbeitszusammenhänge über Universitäten und Disziplinen hinweg entstehen ließen, während man hier die Absichten zu einer umfassenden Forschungsplanung in den 1970er Jahren aufgab, hielt die DDR an zentralistischer Forschungsplanung fest und schuf 1971 sogar ein neues Großforschungsinstitut für die Molekularbiologie.
Dies geschah also zu einem Zeitpunkt, als man in der Bundesrepublik die großen Risiken zu langfristiger Festlegung von Forschungszielen und zu großen Einheiten mit zu starker institutioneller Ausdifferenzierung längst erkannt hatte. Die planwirtschaftliche Organisation des Forschungsbetriebs lähmte die Entwicklung der Biowissenschaften in der DDR nicht zuletzt aufgrund ihres allumfassenden Anspruch, der angesichts der realen Möglichkeiten eine Utopie blieb.
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Dr. Andreas Malycha ist Panel-Teilnehmer des Symposiums “Wissenschaft und Wiedervereinigung”. Mehr Informationen findet man auf dieser Homepage.
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