Nach dem Dreißigjährigen Krieg wanderten nach 1650 zahlreiche Schweizer in die heutige Metropolregion Rhein-Neckar ein
Jeder echte Kurpfälzer hat Schweizer Vorfahren: Kurfürst Karl Ludwig (1617-1680) waren in der Mitte des 17. Jahrhunderts die Untertanen abhanden gekommen. Durch den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), den Historiker in seinen Folgen für die kulturelle Entwicklung und die Vernichtung von Wissen wie im Handwerk in Deutschland noch dramatischer einschätzen als den Zweiten Weltkrieg (1939-1945), waren ganze Landstriche der Kurpfalz wie leergefegt. Das durch Kriegsgräuel und Brandschatzungen besonders heimgesuchte Land zwischen Rhein und Neckar mit seiner Haupt- und Residenzstadt Heidelberg litt unter der Entvölkerung und erließ schließlich 1650 ein Einwanderungspatent: Mit diesem sollten vor allem Schweizer aus den deutschsprachigen Kantonen angelockt werden, um die Bevölkerung rheinabwärts aufzufrischen und ebenso das Handwerk zu fördern.
In seinem Buch „Schweizer (Einwanderer) in Heidelberg nach dem Dreißigjährigen Krieg” geht Norbert Emmerich anhand akribischer genealogischer Forschungen davon aus, dass bis 1720 in die Kurpfalz knapp 10000 Schweizer kamen, davon geschätzte 2200 nach Heidelberg, von denen er 1500 Personen namentlich teilweise mit Berufsangabe, Geburts- und Sterbedatum sowie dem Geburts- und Sterbeort nachweisen kann. Der 68-jährige ehemalige leitende Verwaltungsdirektor einer Berufsgenossenschaft und gebürtigen Berliner, der seit über 30 Jahren in Heidelberg-Kirchheim wohnt, interessierte sich schon seit langem für seine Vorfahren. Nach der Erfassung der eigenen aus Hessen stammenden Vorfahren, sammelte er diejenigen seiner Frau, die aus Niedersachsen und Pommern stammten.
„Bei der Erfassung der Vorfahren meiner Schwiegertochter merkte ich, dass diese fast ausschließlich in der Kurpfalz beheimatet waren. Bald geschah aber das, was jedem hiesigen Familienforscher passiert. Ab dem Jahr 1700 stößt man auf Ahnen, die aus der Schweiz eingewandert waren”, sagt Emmerich. Nach drei Jahren Arbeit legte er dann 2009 sein „Einwanderbuch” vor, indem er nicht nur die Ursachen und den Ablauf der Einwanderung nachweist, sondern ebenso den erstaunlichen Umstand, dass dass die Schweizer zwar zunächst eng zusammenhielten, dann aber rasch mit der bisherigen Bevölkerung verschmolzen und keine Bauten und Bräuche hinterließen. „Dies mag mit dem Umstand zusammenhängen, dass die sozialen Strukturen gleich waren und eine vollständige Assimilierung für die Einwohner nichts Negatives bedeutete, zumal die Schweizer Kantone, aus denen die Auswanderung stattfand und die aufnehmende Pfalz calvinistisch geprägt waren. Die Kurpfalz erlebte so einen neuen Aufschwung.”
Die Schweiz litt selbst bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unter der Siedlungsauswanderung, vor allem in den Norden. Eine Million in der Regel reformierte Menschen wanderten für immer aus, viele Männer gingen vor allem als Söldner in den Militärdienst und blieben dann ebenso im Ausland, wenn sie ihren Beruf überlebten. Auch Kurfürst Karl Ludwig machte sich die militärischen Kenntnisse der Eidgenossen zu Nutzen und ließ eine eigene Leibgarde aus den für ihre Kampfeslust und Vertrauenswürdigkeit bekannten Schweizern aufstellen. In Heidelberg und Schwetzingen wimmelte es zudem im einfachen Hofpersonal „nur so von Schweizern”. Auch dem kurfürstlichen Leibkutscher war anzuhören, dass er wie zahleiche Handwerker in den Städten ein „Zugereister” war. Mit dem Orientalisten und reformierten Theologen Johann Heinrich Hottinger der Ältere (1620-1667) kam mit „Zeitarbeitsvertrag” zwischen 1655 und 1661 zudem ein Züricher auf den verwaisten Rektorenstuhl der 1632 kriegsbedingt geschlossenen Heidelberger Universität.
Die Bedeutung der Schweizer für die Kurpfalz lässt sich aber auch am Beispiel Heidelbergs verdeutlichen. Wichtig war ihr Beitrag für den Wiederaufbau der zerstörten Häuser, der Infrastruktur und des Militärs sowie für den Betrieb der Universität, das religiöse Leben und jenes bei Hof. Leidglich in den städtischen Gremien konnten sich nach den Forschungen von Norbert Emmerich kaum Fuß fassen. Dieses Phänomen war auch andernorts zu beobachten, wo es den alten städtischen Ratsgeschlechtern meist gelang, die Zuwanderer aus dem Stadtrat fernzuhalten. In der Stadtverwaltung Heidelbergs waren Schweizer – anders als in der Staatsverwaltung und in der Universität – fast nur als Hilfskräfte vertreten. Als um 1720 der Strom der Zuwanderer aus der Schweiz versiegt, endeten auch die engen Kontakte in das Alpenland. Die Schweizer gingen nun endgültig in der Bevölkerung auf und verschwanden als eigenständige Gruppe aus dem öffentlichen Bewusstsein.
Emmerich, Norbert: Schweizer (Einwanderer) in Heidelberg nach dem Dreißigjährigen Krieg, Norderstedt 2009, Books on Demand GmbH, ISBN 978-3-8391-1627-2.
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