Günter Schabowski/Frank Sieren: Wir haben fast alles falsch gemacht. Die letzten Tage der DDR, Berlin 2009.
(Teil 1)

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Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 1989 und der elf Monate später stattfindenden Wiedervereinigung hat das einstige SED-Politbüromitglied Günter Schabowski nochmals ein Erinnerungsbuch veröffentlicht. Im Gespräch mit dem Journalisten Frank Sieren, der schon 1990 am Zustandekommen des Buches „Das Politbüro. Ende eines Mythos, Eine Befragung” großen Anteil hatte, ist nun ein knapp 300 Seiten starker Interviewband erschienen, der alle wichtigen historischen Selbstreflexionen Schabowskis zum Thema hat und zusammenfasst.

Paradezeitzeuge für den Untergang der DDR

Der mittlerweile schwer kranke Schabowski wollte damit nach einem Veranstaltungsmarathon durch Schulen, Fernsehsendungen und politische Stiftungen nochmals seine Sicht der Dinge aktualisiert wissen, weshalb er in alten SED-/Linkspartei- sowie in „Stasiveteranen”-Kreisen schon lange als Verräter gebrandmarkt ist. Historikern und Fernsehsendern diente er als „Paradezeitzeuge” für den Untergang der DDR und war das einzige Politbüromitglied überhaupt, das seine eigene Person und sein Wirken in der menschenverachtenden SED-Diktatur kritisch aufarbeitete und eine gewisse Schuld für sich selbst anerkannte.

Gleiche Vehemenz wie als ND-Chefredakteur

Dabei muss ihm auch nach der Lektüre seines neuerlichen Erinnerungsbuches vorgehalten werden, dass er seine schonungslose Selbst-Aufarbeitung genauso vehement und argumentativ durchzieht, wie er noch von 1978 bis 1985 als Chefredakteur des Neuen Deutschlands (ND) die Errungenschaften der DDR und des Sozialismus pries. Es gilt deshalb festzuhalten, dass der mittlerweile als „gute Mann vom Politbüro” geltende durch sein Wirken in der DDR und nicht zuletzt SED-Bezirkschef von Berlin (1985-1989) viele Menschen ebenso ins Unglück stürzte. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er jedoch in erster Linie wegen seines völligen sozialen Abstieges nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft im Dezember 1989 im Gegensatz zu einem Egon Krenz gezwungen war, seine ideologischen Lebensgrundsätze zu überdenken und aufzugeben.

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Foto: Mauritius Schell

Moralische Schuld für Mauer-Tote

Vom Berliner Landgericht war Schabowski 1997 wegen Totschlags zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Er ging zwar vergeblich in Revision vor dem Bundesgerichtshof, erkannte aber seine moralische Schuld für die Toten an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze an. Nach knapp einem Jahr Haft wurde er im Dezember 2000 nach der Begnadigung durch den damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen (CDU), auf freien Fuß gesetzt.

Machtposition sollte 1989 gesichert werden

Das Buch beginnt mit der Erinnerung an Günter Schabowskis „Redeeinsatz” bei der größten Demonstration der DDR-Geschichte mit knapp einer Million Menschen am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, wo er als Vertreter der Honecker-Putschisten versuchte, das Ruder nochmals für die alte, scheinbar erneuerte SED herumzureißen, was nur bedingt gelang. Die Ausführungen Schabowskis zeigen aber besonders in ihrer Banalität, dass auch er noch vor dem 9. November 1989 alles versuchte, um die DDR und seine eigene Machtposition zu sichern.

Oberflächlichkeit, Nichtrelevanz und Schusseligkeit

Das Fragenkorsett Frank Sierens ist in diesem Zusammenhang so aufgebaut, dass sein Interviewpartner auf Signalwörter möglichst viel antwortet, um möglichst viel „Text” zu produzieren, was sich an vielen Stellen in der Oberflächigkeit und Nichtrelevanz der Antworten erweist. Der Verlag hätte jedoch auch keine komprimierten 40 Interviewseiten veröffentlichen können. Dies gilt besonders für seine Ausführungen zur „Maueröffnung” am 9. November 1989. Anstatt (endlich) zuzugeben, dass er (Schabowski) dem Druck der internationalen Medien nicht gewachsen und auf die Pressekonferenz schlecht vorbereitet war, versucht er seine Einlassungen „Privatreisen nach dem Ausland…”, die Krenz nicht ohne Grund als „Schusseligkeit” bezeichnet, in neuer Form zu rechtfertigen.

„Mein flinkes Verlesen mag den Journalisten ebenfalls so merkwürdig vorgekommen sein, dass sie glaubten, ich hätte in diesem Augenblick erst von dem Sachverhalt erfahren. Aber das stimmt nicht. Ich habe diese Formulierung in schnellem Tempo vorgelesen, weil ich vor der Öffentlichkeit nicht auch noch betonen wollte, dass das ein Schritt aus der Bedrängnis war.” (S. 31)

Günter Schabowski hat diese aktualisierte Stellungnahme in vielen Veranstaltungen und Interviews der vergangenen Jahre so oft wiederholt, dass er sie nun selbst glaubt. Die mittlerweile auf „Youtube” einsehbaren Pressekonferenzmitschnitte lassen etwas Anderes erahnen, zumal sich Schabowski nach seinen Ausführungen und weiteren Interviews seelenruhig nach Wandlitz fahren ließ und sich nicht über die Tragweite seiner Ausführungen beziehungsweise die Macht der westdeutschen Medien auf die DDR-Bürger und deren Freiheitswillen bewusst war.

Die ARD-Produktion „Schabowskis Zettel” (Erstausstrahlung am 2. November 2009) und der Begleitband von Florian Huber mit dem Untertitel „Das Drama des 9. November” (Berlin 2009) lassen auch die bewusste Öffnung der Mauer als Sichtweise zu. Wie es dazu kam, (mit oder ohne Sperrfrist), lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Fest steht, dass die neue SED-Führung wie auch immer das Problem des „Reisegesetzes” rasch lösen wollte. In diesen Kontext passt auch das NBC-Interview zwischen Tom Brokaw und Schabowski vom 9. November 1989, bei dem der „SED-Pressesprecher” auf die Frage, ob die Bürger der DDR über die Grenzen gehen könnten, sagte: „It is possible for them to go through the border.”

(Teil 2 folgt am 10. Januar 2009 auf „Zeittaucher”)

Kommentare (5)

  1. #1 Dr. Carl-A. Neinens
    Mai 25, 2010

    Da Schabowski für das Zentralorgan der DDR-Diktatur ‚Neues Deutschland‘ zuständig war, gehörte er zweifellos zu den schlimmsten Gegnern der westlichen Demokratie. Dazu ist in dem Buch fast nichts zu finden. Selbst wenn er aber erst durch die Zwänge des Mauerfalls, wie alle anderen Mitglieder des Politbüros, den Boden unter den Füßen verlor, ist ihm die öffentliche Einsicht, dass er sich auf einem fatalem Irrweg befand, hoch anzurechnen. Andere Weggenossen, wie Modrow, Krenz oder auch Gysi, sind zu feige dazu und behalten lieber ihre Scheuklappen. Die Schmach, als Verräter oder Wendehälse verhöhnt zu werden, bleibt ihnen dadurch zwar erspart aber das entlastet sie nicht von ihrer Schuld. Gysi ist sogar bereit, neue auf sich zu nehmen und neues Verderben zu organisieren.

  2. #2 Schmidt
    Oktober 19, 2011

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    ich möchte Sie über die Neuerscheinung eines Zeitzeugenromans informieren,

    der sich vom Inhalt her erstmalig auf dem Buchmarkt befindet.

    Es wäre schön, wenn es Schabowski lesen würde – er wäre um vieles klüger. Ich werde es ihm zusenden – klar!

    “Im Auftrag des Großen Bruders“, Gründe des Niedergangs der DDR
    ISBN 978-3-86254-551-3, Autobiografie
    AAVAA-Verlag, Berlin

    Falls Sie auch an einer Lesung Interesse habe, hier meine Adresse:

    Thomas Schmidt 04880 Greudnitz Wittenberger Straße 14 a Ruf: 034223/41226

    Vorsichtshalber habe ich noch eine Mail gesandt. Sie finden dort nähere Angaben zum Autor.

    Auszug aus dem Vorwort des Buches

    Kein anderer Staat des ehemaligen Ostblocks war so eng mit der Sowjetunion verbunden wie die DDR. Es galt außerdem, vom Großen Bruder zu lernen.
    Schon in den Schulen der DDR hat man für das Bauhandwerk geworben. Zum einen gedachte man, die Industrie der Republik voranzutreiben und zum anderen den dringenden Bedarf an Wohnungen zu sichern, doch dann wurden Bauinvestitionen für die Landesverteidigung der Republik als vorrangig deklariert. Dazu gehörten Vorhaben der Nationalen Volksarmee, des Ministeriums für Staatssicherheit, der sowjetischen Streitkräfte und nicht zuletzt jene des Ministeriums des Innern. Um sie zu realisieren, hat man eine Arbeiterschaft benötigt, die im Sinne des Gesellschaftssystems der DDR politisch-ideologisch ausgerichtet war.
    Aus Gründen der Geheimhaltung wurde die Anzahl der verantwortlichen Bearbeiter solcher Vorhaben so gering wie möglich gehalten …

  3. #3 Schmidt
    November 12, 2011

    “Im Auftrag des Großen Bruders“

    Sehr geehrte Damen und Herren,
    noch etwas Ergänzendes aus meinem Zeitzeugenroman , Autobiografie, AAVAA-Verlag, Berlin:
    Die DDR wurde mit militärischen Standorten übersät – Atom- oder Führungsbunker wuchsen wie Trüffeln in der Erde – sie fielen unter die geheime Verschlusssache. Deshalb war nur ein sehr kleiner Personenkreis informiert. Darauf hatte es die Stasi angelegt. Vor allem wurden Arbeitskräfte aus volkseigenen Betrieben überwacht, die am Bau militärischer Objekte beteiligt waren. Bevor sie in die Objekte durften, überprüfte man sie im Zeitraum von 6 Wochen bis zu 3 Monaten – je nach Bedeutung der Standorte. Dazu wurden Namenslisten der Betriebe mit den einzelnen Funktionen vom Handlanger bis zum Betriebsdirektor erstellt und dem MfS übergeben. Hinzu kamen noch Vorhaben des Ministeriums des Innern, der sowjetischen Streitkräfte u. jene an der innerdeutschen Grenze. Daraus ergab sich eine flächendeckende Überwachung – Heere von Mitarbeitern der Stasi und seinen inoffiziellen Mitarbeitern wurden in allen 13 Bezirken der kleinen DDR “ins Rennen“ geschickt. Schwerpunkt war, inwieweit betreffende Arbeitskräfte mit Bürgern in der BRD in Verbindung standen. Dass geheime Informationen nach außen getragen wurden, konnte natürlich nie verhindert werden, auch nicht mit dem “Mauerbau gegen Spione”.

    Baumaßnahmen innerdeutsche Grenze und Mauer in Berlin – alles in allem 1600 Km Länge – schon 1964 kaum zu überwinden – habe es nämlich versucht. Kosten für die laufende Instandsetzung und den Ausbau? Nun ja – für die Verantwortlichen in der DDR waren die Kosten ein Tabuthema.
    Anmerkung: Mein Ziel im Roman war, die Grenze zur erzählerischen Fiktion nicht zu überschreiten. In meinem Zeitzeugenroman werden Fakten in Handlungen gepackt und mit Dialogen gespickt. Sie sollen auch das Leben der Menschen in der DDR unter genannten Umständen veranschaulichen.

    Thomas Schmidt

  4. #4 Schmidt
    Dezember 18, 2011

    Ich denke gerade an den “Herrn mit dem Zettel” bzw. an den 9. November 89

    Als ich 1964 in den Westen abhauen wollte, stellte ich fest, dass die Grenze schon 3 Jahre nach dem 13. August kaum zu überwinden war. Ein Problem waren außerdem die freiwilligen Grenzhelfer mit ihren bohrenden Blicken auf Wanderwegen – Kontrollen wurden oft schon außerhalb der Grenzgebiete durchgeführt.
    Als 17-Jähriger war ich der Meinung, dass es gar nicht notwendig sei, bewaffnete Grenzer zu postieren und noch dazu mit einem Schießbefehl zu vergattern – Hund und Trillerpfeife hätten vollauf genügt, jedenfalls nach der Konstruktion der Absperrungen zu urteilen.
    (Erlebnisschilderung ab Seite 23 “Im Auftrag des Großen Bruders“)

    Th. Schmidt
    Zeitzeuge

  5. #5 Kowalski
    März 25, 2012

    Schabowski – der Mann mit dem Zettel: Nach Meinung vieler Bürger hat auch er seinen Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit geleistet. Zur DDR-Zeit war er im Volk kaum bekannt. Und wenn es an der Grenze knallte, hieß es: “Die da oben haben wieder mal geballert!”
    Bis 1990 blieb die hegemoniale Vertragspolitik der Sowjetunion erhalten. Die Administrative folgte ihr bis zum bitteren Ende – “Im Auftrag des Großen Bruders”.
    Es gibt Leser, die wenig über den Sicherheitsanspruch der Stasi u. deren Einfluss auf die damaligen Politiker wissen u. nunmehr seine Aktivitäten infrage stellen. Warum eigentlich! Hohe MfS-Offiziere haben ihre Aktivitäten z. T. auch im MDR-Fernsehen längst offengelegt, auch Aktivitäten zur Sicherung Devisen über den Kunsthandel.
    1 Beispiel aus der Presse 2011:
    Leser Martin Tschernig war hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter. Er schreibt:
    „Wir Ehemaligen sollten keine politischen Ämter oder Aufgaben im öffentlichen Dienst anstreben. Ich war Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit und später Hauptamtlicher bei der Abteilung XX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berlin.
    Wir Ehemaligen haben uns in Demut vor unseren Opfern zurückzuhalten. Denn wir haben großen Bockmist gebaut. Wir haben uns an einer unglaublichen Hydra beteiligt. Wir haben Schicksale von rechtschaffenen Mitbürgern beeinflusst, wir waren Teil eines bedrückenden gesellschaftlichen Klimas und wir haben Menschen in den Knast gebracht …