Retzer, Arnold: Lob der Vernunftehe. Eine Streitschrift für mehr Realismus in der Liebe, Fischer (S.), Frankfurt am Main 2009.
Von Elena Allendörfer (Universität Heidelberg)
Da liegt sie also – 297 Seiten stark – Arnold Retzers neueste Publikation „Lob der Vernunftehe”. Eine Streitschrift ist sie, so verspricht es der Untertitel mit dem Zusatz „Für mehr Realismus in der Liebe”. Wie dies zusammengeht, Gefühl und Verstand, Panegyrik und Pragmatismus, dies versucht der Heidelberger Privatdozent für Psychologie seiner ehemüden Leserschaft in 13 mehr oder weniger kontroversen und leider teils inhaltsarmen Kapiteln näherzubringen, getreu seiner selbstgewählten Einleitungsworte: „Weniger ist mehr”!
Pseudoanalytischer „Problembewälzung”
Nun, was versteckt sich also hinter dem Begriff der Vernunftehe und wie ist er mit der modernen Liebe zu vereinbaren? Gleich vorab, dieses sicherlich spannende Sujet verschreibt sich nicht einer paarpsychologischen Gebrauchsanweisung, nach deren korrekter Verinnerlichung sich alsbald eine Genesung der Ehe und damit die gewohnte Harmonie wiederherstellen lässt, sondern ist der im Ansatz gute und unvollendete Versuch pseudoanalytischer „Problembewälzung”, den Leser zur Reflexion ihrer eigenen Unzulänglichkeiten (und denen des Partners) anzuhalten. Gott sei Dank, möchte man sagen, nicht noch ein Ratgeber, welche die Zauberformel für die erfüllte Ehe bereit hält. Doch, wozu dann ein Ehelob?
Ist die Ehe noch zeitgemäß?
Leider ist „Lob der Vernunftehe” noch nicht einmal das, was es im Titel zu suggerieren versucht, die leidenschaftliche Parteiergreifung und Verteidigung der Institution Ehe. Es handelt sich stattdessen um die langwierigen Beschreibungen aller Kardinalfehler, welche Paare aus diversen Gründen wohl begehen und damit, fast mutwillig ihre Beziehung in Schieflage versetzen (Kap. 2). Auch wenn sich Retzer gegen reaktionäre Tendenzen ausspricht (immerhin will er sowohl gegen – als auch gleichgeschlechtliche Paare ansprechen), kommt man nicht umhin zu fragen, was sind denn die Themen, welcher sich der Autor bedient und was ist daran überhaupt innovativ?
Sinnfreie Liebesmetaphern
Es ist einmal mehr der postulierte Gegensatz zwischen Liebe und Vernunft (Ehe), der die Beziehung belastet. Retzer ist sich dabei auch nicht zu schade, alle beladenen Liebes-Metaphern (Liebe „bitter-süß”) und -Allegorien (Platons Kugelmenschen) ein weiteres Mal zu bedienen. So finden der Aristophanes-Mythos und Peter Maffay genauso sinnfrei den Anschluss wie die Vorangenannten. Der Vollständigkeit halber: Dieser müssen dann wohl ebenso, gemäß des wissenschaftlichen Habitus, die Fußnoten am Ende des Bandes gewidmet sein. Dort erfährt der interessierte Leser in der Folge, falls er sich für den Nachweis der verwendeten Studien interessiert, neben dem genauen Wortlaut Maffayscher Liebespoesie, nebenher vollkommen außerhalb der Reihe weitere Nichtigkeiten. Fußnote gesetzt. Leser zufrieden.
Vorauswahl von Ehekandidaten
Das ist schade, denn neben diesen Mängeln scheint es, als wolle Retzer mit den überbordenden idealistischen Erwartungen an die Ehe aufräumen, welche die Unterhaltungsindustrie Paaren suggeriert, auch wenn er dabei den Fehler begeht, sie gleichzeitig zur Unterfütterung seiner Argumentation zu Rate zu ziehen. Die gleichen Erwartungen sind nach Retzer der Kern des Übels kriselnder Beziehungen. Der reflektierte Leser fragt sich dennoch, was in Anbetracht des sprunghaften Anstieg von Online-Liebes- Plattformen, welche vom amourösen Abenteuer bis zum kitschbehangenen Dinner alles erübrigen, um diesen gerecht zu werden. Was spricht gegen eine Vorauswahl eines potenziellen Kandidaten aufgrund der Erfahrungen, die bereits gemacht worden sind? Wäre dieses Vorgehen nicht äußerst vernünftig?
Perfekte Ehe ist eine Illussion
Oder der hohen Scheidungsrate? Wieso sprechen wir noch über die Ehe, wenn andere Formen der Partnerschaft, ihrer Dauer und Intensität sich verändern? Steht hier vielleicht die gesellschaftliche Realität dem Wunschdenken gegenüber? Da Beziehungen aus diversen Gründen bestehen, sich entwickeln und verändern, sieht Retzer grundsätzlich den Fehler vieler Paare ihre Beziehung perfektionieren zu wollen.
Eheprobleme sollen verbalisiert werdem
Dabei werden Wünsche leicht zu Forderungen und diese wiederum zu Anschuldigungen. Wünsche zu haben ist jedoch kein Fehler des Partners. Sie jedoch um jeden Preis erfüllen zu wollen, ist hingegen problematisch. Retzers Ansatz ist es deshalb, Konflikte in der Partnerschaft zwar zu verbalisieren, aber insbesondere erkennen zu können, dass nicht jedes Ziel dadurch erreicht werden kann. In diesem Fall müsse sich das Paar den Problemen stellen. Falls sie jedoch nicht zur Lösung ihres Konfliktes kämen, müsse es stattdessen das Ziel sein, mit dem Makel künftig leben zu lernen oder sich zu trennen. In beiden Fällen sollten die Paare also Entbehrungen hinnehmen. Dies ist wohl die Quintessenz der Vernunftehe: Entweder leben im Mittelmaß oder weitersuchen. Realistisch ist das.
(Foto: © Gabriele Planthaber / Pixelio 2010)
Keine weiterführenden Lösungsvorschläge
Somit ist „Lob der Vernunftehe” zwar ein Kompendium vieler beispielhafter Situationen, denen sich der Autor als Therapeut gegenüber saß, darüber hinaus bietet er jedoch keine weitergreifenden Lösungsvorschläge, die die Ehe auf eine vernunftgemäße Basis stellen können, außer der Absage an die Liebe. Es scheint als könnten Beziehungsprobleme allein durch die Eigendynamik innerhalb der Partnerschaft ertragbar werden. Solche Vorschläge eines Ratgebers wirken jedoch eher befremdlich als hilfreich. Daneben vermeidet es Retzer, wesentliche Erklärungen wie zum Beispiel derjenigen der Vernunft, zu geben, die ein Verständnis seines neuartigen Ansatzes erleichtern könnten. Zusammengefasst weckt der Titel größere Erwartungen, als sie der Text erfüllen kann.
Weiterlesen:
Lachen statt Streiten – das Geheimnis langer Ehen (Welt vom 2. März 2009)
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